Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 244: Identitätspolitik zwischen Selbstbestimmung und Abspaltung

„Zum Glück sind Bauern keine Klimakleber!“

Während die „Letzte Generation“ aufgrund der von ihnen verübten Straßenblockaden und Sachbeschädigungen als mögliche Terrorbedrohung eingestuft wurden und bestimmte Protestformen sowie Demonstrant*innen kriminalisiert wurden, war der öffentliche Umgang mit den Straßenblockaden und sonstigen Aktionen der Bauernproteste wesentlich wohlwollender, obwohl hier sogar Personen körperlich zu Schaden kamen und Morddrohungen ausgesprochen wurden. Ernst Fricke geht dieser Doppelmoral nach und ordnet diese juristisch ein. Wenn die Bauernproteste als überwiegend legal gelten, so müsse dies auch für die Versammlungen der „Letzten Generation“ gelten.

 

Unter der Überschrift Zum Glück sind Bauern keine Klimakleber! hat sich Stefan Giese (2023) von SWR-aktuell mit den Bauernprotesten in Deutschland auseinandergesetzt. Seit Mitte Dezember 2023 protestieren deutsche Landwirt*innen und ihre Unterstützer*innen bundesweit gegen die Politik der derzeitigen Bundesregierung. Auslöser waren die vom Kabinett Scholz beschlossenen Streichungen von Steuersubventionen für die Landwirte und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023, welches den zweiten Nachtragshaushalt für das Jahr 2021 für verfassungswidrig und damit für nichtig erklärte. (Bundesverfassungsgericht 2023)

Als der für den Landwirtschaftssektor zuständige Bundesminister Cem Özdemir (Grüne) die Erhebung von Steuern für Agrardiesel analog zum „normalen Diesel“ und die Einführung der Kraftfahrzeugsteuer für Landwirtschaftsfahrzeuge (bisher grünes Nummernschild) ankündigte, führte das zu den bundesweiten Protestaktionen von Bäuer*innen gegen die nach ihrer Meinung schädlichen seit mehreren Jahren verfolgte Agrarpolitik in Deutschland.

„Haben protestierende Bauern und Klimaaktivisten eine Gemeinsamkeit?“ Der Journalist Giese beantwortet seine Frage mit: „Die Form ihres Protestes. Doch hysterische Reaktionen provoziert nur eine Seite“ (Giese 2023).

Dabei verbindet die Form des Protestes der Landwirt*innen diese mit den Aktivist*innen der „Letzten Generation“. Beide Gruppen erzeugen Aufmerksamkeit für ihr Anliegen, wenn sie Staus verursachen, den Verkehr lahmlegen und die gewohnten Abläufe so zum Stillstand bringen. Einen Vorteil haben dabei die Landwirt*innen: Während die Klimaaktivist*innen sich auf die Straße setzen, sich bisweilen festkleben und ihnen somit nur ihr Körper zur Verfügung steht, können die Landwirt*innen imposante Großgeräte auffahren, Traktoren und andere unübersehbare Nutzfahrzeuge. (Giese 2023)

Dabei könnten Klimaaktivist*innen und Bäuer*innen zusammen für eine nachhaltige Klimaschutzpolitik demonstrieren. Beide wollen, dass die Regierung die ökologische Wende unterstützt und das möglichst sozial gerecht. Klimaaktivist*innen und Landwirt*innen beäugen sich aber skeptisch. Die Bäuer*innen haben das Gefühl, über den „Klimaklebern“ zu stehen, weil sie ihre Proteste – im Gegensatz zu denen der Klimaaktivist*innen – immer angemeldet haben. (Leitner 2024)

„Bauernproteste sind überwiegend legal“, titelt Legal Tribune Online (LTO), über den bundesweiten Einsatz von tausenden Treckern, der Blockade von Straßen und Autobahnauffahrten (Rath 2024).

Wer mit einem „Tötet Ozdemir“-Schild zur Ermordung des Landwirtschaftsministers aufruft, „wie in Wiesbaden gesehen, macht sich wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten gemäß § 111 StGB selbst strafbar. Es droht Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren. Ein einzelnes strafbares Schild macht aber nicht die gesamte Demonstration illegal. Vielmehr müssen die Demo-Ordner dafür sorgen, dass solche strafbaren Schilder verschwinden. Notfalls muss die Polizei einschreiten“ (Rath 2024).

Der renommierte Autor Christian Rath kritisiert auch zurecht die Galgen, die bei den Bauernprotesten oft zu sehen sind: „Hängt am Galgen eine rot-gelb-grüne Ampel, wird damit wohl eher ein Ende der Koalition gefordert, als die Hinrichtung konkreter Politiker. Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass mehrdeutige Äußerungen im Zweifel so ausgelegt werden, dass sie nicht strafbar sind“ (Rath 2024).

Dabei stellt sich die Frage: Blockade oder Kundgebung? Eine Straßenblockade ist in der Regel auch dann eine strafbare Nötigung gemäß § 240 StGB, „wenn sie Aufmerksamkeit für einen politischen Zweck schaffen soll. Die Klimaaktivisten von der ‚Letzter Generation‘ wurden deshalb in den vergangenen zwei Jahren hunderte Male zu Geldstrafen verurteilt, manche sogar zu Freiheitsstrafen“, meint Rath (2024).

Anders sieht es allerdings aus, wenn die Meinungskundgebung im Vordergrund steht und die Behinderung des Verkehrs nur eine notwendige Nebenfolge ist. Nachdem aber der Bauernverband nicht zu „Blockaden“ aufgerufen, sondern lediglich zu „Traktorenkorsos“ und „Kolonenfahrten“, die er auch ordentlich bei den Behörden anmeldete, gilt das „demonstrationsrechtliche Selbstbestimmungsrecht“. „Wer eine Kundgebung veranstaltet, kann grundsätzlich selbst entscheiden, wann, wo, und wie demonstriert werden soll“ (Rath 2024).

Es gibt aber eine unterschiedliche Handhabung durch die Bundesländer. In Brandenburg gab es von der Polizei eine Intervallvorgabe. Danach waren die Autobahnauffahrten alle 30 Minuten für jeweils 30 Minuten freizugeben. Gegen diese Auflage klagten die Bäuer*innen mit Erfolg. Das OVG Berlin-Brandenburg hat in einem Eilverfahren sogar entschieden, dass die Bäuer*innen die Autobahnzufahrten stundenlang blockieren dürften. Der Grund: „Autofahrer müssten ja nicht unbedingt die Autobahn benutzen und könnten ihr Ziel auch auf anderen Straßen erreichen“ (Rath 2024). Und Rath merkt an: „So großzügig war der Umgang der Gerichte mit der ‚Letzten Generation‘ bisher in der Regel nicht“, und selbst kilometerlange Staus rechtfertigen die erlassenen Verwaltungsakte nicht: „Wichtige Abwägungselemente sind dabei unter anderem die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten, die Dringlichkeit der blockierten Tätigkeit Dritter, aber auch der Sachbezug zwischen den beeinträchtigten Dritten und dem Protestgegenstand“ (VG Potsdam 2024).

Die Beschwerde gegen diese Entscheidung hat das OVG Berlin Brandenburg am 6. Januar 2024 zurückgewiesen. „Nach wie vor legt der Antragsgegner jedoch nicht hinreichend dar, dass es zu einem angesichts der Bedeutung des Art. 8 GG nicht mehr hinnehmbaren Erliegen oder massiver Behinderung des Verkehrsflusses käme“ (OVG Berlin 2024).

Für die Landwirt*innen gibt es auch sachkundige Informationen auf agrarheute, unter der Überschrift Blockade, Misthaufen, Galgen: so ist die Rechtslage für Protestbauern (Laufmann 2024). Eine Blockade an einem Fähranleger in Schleswig-Holstein führt nach Meinung des Autors „zu Protestformen, die Landwirte unter keinen Umständen nützen sollten, weil dann zunächst einmal der Vorwurf der Nötigung im Raum steht. Da muss man nicht einmal Minister sein.“ Auch „Misthaufen auf der Straße gefährden andere Verkehrsteilnehmer […] Eingriffe in den Straßenverkehr ist keine Bagatelle“ und „[u]mgedrehte Ortsschilde laufen unter Sachbeschädigung“ (Laufmann 2024). Es gibt Staatsanwaltschaften, die solche Fälle prüfen: „Wie weit darf der Bauernprotest gehen?“ (Breitinger 2023)

Auch in Bayern haben die Bäuer*innen bei Autobahnauffahrten den Verkehr massiv beeinträchtigt. Die angemeldeten Blockaden an mehr als 80 angekündigten Autobahnauffahrten, waren mit Behörden und Polizei abgesprochen (ZEIT 2024).

Nur selten erfährt man von Ermittlungsverfahren wegen der Bauernproteste. Bei einer Protestaktion von Landwirt*innen im Landkreis Regensburg wurde ein Mann verletzt, der der Polizei zufolge Traktoren stoppen wollte, um mit den Teilnehmenden zu sprechen. Einige Schlepper hätten angehalten, andere seien seitlich vorbeigefahren. Dabei sei der Mann von einem Traktor am Fuß verletzt worden. Allerdings hat die Staatsanwaltschaft gleichzeitig gegen den 68-jährigen Verletzten strafrechtlich ermittelt, da er einen „genehmigten Protest gestört habe“ (Landshuter Zeitung 2024).

„Mist auf der Straße! Fünf Verletzte bei Bauern-Protesten“, berichtete am 5. März 2024 die BILD. Protestierende Bäuer*innen hatten ohne Vorwarnung mehrere hundert Meter weit Gülle und Mist auf der Bundesstraße 5 bei Elstal (Brandenburg) ausgekippt. „Die Folge: Drei Verkehrsunfälle mit fünf verletzten Personen, drei kamen sogar ins Krankenhaus. Zudem hatten die Landwirte die Durchfahrt mehrerer Feuerwehrfahrzeuge behindert, die zu einem Einsatz über die B 5 fahren mussten. Die Polizei rückte an, ließ elf Fahrzeuge der Bauern abschleppen und nahm Anzeigen auf. Eine weitere Protestaktion fand in Potsdam nahe der Glienicker Brücke statt. Dabei wurden „mehrere Traktoren und Autos auf der Straße abgestellt. Eine Demonstration bei Groß Glienicke wurde ebenfalls von der Polizei geräumt“ (BILD 2024).

Gibt es einen Unterschied zwischen Bauernprotesten und Straßenblockaden in strafrechtlicher Hinsicht? In einem YouTube-Video stellt sich Rechtsanwältin Glück als Strafverteidigerin vor und führt das Folgende aus:

„Monatelang herrschte Aufregung, weil Klimakleber protestierten – also Menschen, die sich für Natur und Umwelt einsetzen und andere wachrütteln möchten, dass die Grundlage unseres Lebens in Gefahr ist, also durchaus Interessen der Allgemeinheit vertreten haben und sich auf Straßen geklebt haben und damit den Verkehr behindert haben. In den sozialen Netzwerken sind Bauern gehyped worden, wenn sie jemanden, der auf dem Boden sitzt, mit Gülle überschüttet haben oder gar mit dem Traktor massiv auf diese Menschen zugefahren sind. Es gab sehr viele Berichte darüber, dass Strafverfahren eingeleitet werden. In Bayern gab es teilweise sogar Präventionshaft, um solche Aktionen zu verhindern. Man sprach von Nötigung, man sprach von gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr. Es gab viele Menschen, die diese auf dem Boden Klebenden angegangen sind. Die Meinung war relativ eindeutig – wohlgemerkt für Menschen, die eigentlich für die anderen etwas tun wollten. Nun haben wir die Bauernproteste und die Bauern fahren mit Traktoren, wohlgemerkt privilegiert betankt dafür, dass diese Traktoren auf Ackerwegen fahren, fahren mit diesen Traktoren bis in große Städte, große Alleen werden blockiert. Also, abgesehen davon, dass dort sehr viel Diesel verbrannt wird, versucht man auf diese Art und Weise darauf aufmerksam zu machen, dass die Bauern ihre Rechte einfordern. Grundsätzlich, wenn Autobahnzufahrten gesperrt werden, haben wir genau denselben Tatbestand der Nötigung, denn die anderen Autofahrer können ja nicht mehr auf die Autobahn fahren. Möglicherweise kommen Menschen zu spät zur Arbeit, verpassen Termine, Kinder kommen nicht in die Schule, und Ärzte kommen nicht zu ihren Patienten bzw. möglicherweise kommen auch Rettungsfahrzeuge nicht mehr durch, weil dort so viele Traktoren stehen. Sprich, wir haben das identische Problem der Straftaten, Nötigung und gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr. Allerdings, zumindest so wie die Medien berichten bisher, relativ wenig Konsequenzen, wenn man es im Verhältnis betrachtet. Das heißt, diejenigen, die für die eine Gruppierung eintreten, werden weniger hart angegangen als diejenigen, die für alle anderen eintreten. Das ist natürlich noch nicht das Ende der Fahnenstange und die Berichterstattung dauern an. Wir werden das auch sehr genau verfolgen, möglicherweise gibt es auch sehr viele einzelne Anzeigen. Auch da gab es Aufrufe in den sozialen Netzwerken, wenn man sich geärgert hat, dass der Verkehr blockiert ist, doch eben als Einzelner Strafanzeige zu erstatten oder gar zivilrechtlich Schadensersatzforderungen gegenüber den Veranstaltern zu erheben.“ (Glück 2024)

Nachdem das Landgericht München I einen Anfangsverdacht für die Mitglieder der „Letzten Generation“ als kriminelle Vereinigung im Beschluss vom 16. November 2023 bestätigt hat, weil „diese Gruppierung alle Voraussetzungen einer Vereinigung“ erfülle: Sie sei nach den bisherigen Ermittlungen ein auf Dauer angelegter Zusammenschluss mehrerer Hundert Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses – der Durchsetzung klimapolitischer Forderungen durch „zivilen Ungehorsam“ (LG München I 2023; beck-aktuell 2023), stellt sich die Frage, ob hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Die Begründung und die Anträge der Generalstaatsanwaltschaft vom Mai 2023, mehrere Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse zu erlassen, bestätigt das Landgericht und bejaht eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Das LG sieht in den Taten auch eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Der gesellschaftliche Diskurs werde durch illegitime Mittel verletzt, wenn eine Gruppierung versuche, sich – gegebenenfalls moralisch überhöhend – über die rechtsstaatliche Ordnung und die konsentierten Formen der demokratischen Abläufe zu stellen. Straftaten seien kein Mittel der freiheitlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen Diskussion, sondern Ausdruck krimineller Energie „und als solche juristisch nüchtern zu bewerten“. Moralische Argumente könnten jenseits der Gesetze eine Strafbarkeit weder begründen noch negieren. (beck-aktuell 2023)

So wurde im Rahmen der bayerischen Ermittlungen gegen Aktivist*innen der „Letzten Generation“ rund 725.000 Euro zu viel beschlagnahmt. Das Geld gehörte anderen Konten eines Finanz-Start-Ups. Diesen Teil der strafprozessualen Maßnahmen hat das Landgericht München als unverhältnismäßig eingestuft. Die Aktivisten hatten 70.000 Euro beim Start-Up Elinor angelegt. Das Unternehmen bot sogenannte Gruppenkonten an, laut Gründer zum Beispiel auch für Chorgruppen. Im Rahmen der Ermittlungen gegen die „Letzte Generation“ beschlagnahmten die Behörden fast 800.000 Euro von Elinor. Trotzdem ist die Entscheidung „zu spät“ erfolgt. „Das Unternehmen muss seine Tätigkeit einstellen“ (Süddeutsche Zeitung 2023).

Dabei ist die strafrechtliche Bewertung von Sitzblockaden von Klimaaktivist*innen äußerst umstritten. Diese Grundsätze und die Diskussion werden durch die Bauernproteste auch unter dem Gesichtspunkt der „Ungleichbehandlung“ angestoßen (Preuß 2023). Die Autorin arbeitet die rechtliche Einordnung an drei Entscheidungen des AG Tiergarten ab (AG Tiergarten 2022a; AG Tiergarten 2022b; AG Tiergarten 2022c). Preuß kommt zum Ergebnis:

„Die strafrechtliche Bewertung der Sitzblockaden von Klimaaktivisten ist noch nicht abschließend geklärt. Die Strafbarkeit wegen Nötigung hängt vor allem von der Auslegung der Verwerflichkeitsklausel und den Umständen der jeweiligen Blockade im Einzelfall ab. Insofern sind entsprechende höchstrichterliche Entscheidungen mit Spannung zu erwarten, wobei – neben der Anwendbarkeit von Rechtfertigungsgründen – von besonderem Inhalt ist, ob und inwieweit zukünftig Fernziele im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung eine Rolle spielen werden und ob die Rechtsprechung Konsequenzen für die Verwerflichkeitsprüfung aus der besonderen Weite des Sachbezugs bei Klimaprotesten ziehen wird.“ (Preuß 2023, Rn. 45)

Und in den Juristischen Arbeitsblättern (JA) wird der Frage „Mitgegangen, mitgehangen? – zur Frage einer Einordnung der Letzten Generation als kriminelle Vereinigung nach § 129 StGB“ nachgegangen (Heil/Vogt 2023). Im Ergebnis stellen die Autorinnen fest:

„Die Letzte Generation als übergreifendes Bündnis ist im Ergebnis bei restriktiver Auslegung und Anwendung der ungeschriebenen Erheblichkeitsmerkmale auf der Tatbestandsebene und aufgrund des Ausschlussgrundes nach § 129 III Nr. 2 StGB nicht als kriminelle Vereinigung einzustufen“. (Heil/Vogt 2023: 886)

Unter der Überschrift Eine Frage des Einzelfalles führen Heil und Vogt aus:

„Eine differenzierte Betrachtung der Frage, inwiefern die Letzte Generation eine kriminelle Vereinigung iSd § 129 StGB darstellt, ist geboten. Das Bündnis ist eine Vereinigung gem. § 129 II StGB. Da aber die Tätigkeit des Bündnisses nicht grundsätzlich auf die Begehung erheblicher Straftaten gerichtet ist, was indes bei genetischer und teleogischer Auslegung notwendig wäre, ist die Letzte Generation als solche keine kriminelle Vereinigung. Eine andere Einordnung ist für einzelne Teilgruppierungen denkbar.“ (Heil/Vogt 2023: 887)

„Wo die kriminelle Vereinigung beginnt“, haben Singelnstein und Winkler (2023) die strafverfassungsrechtliche Reduktion des § 129 StGB ausführlich begründet. Die Autoren kritisieren den Gesetzgeber für die Neufassung des § 129 StGB im Jahr 2017, der zu einer erheblichen Ausweitung „des ohnehin schon problematischen und umstrittenen Tatbestands geführt hat“. Abschließend führen Singelnstein und Winkler aus:

„Aus strafverfassungsrechtlicher Sicht ermöglicht der Tatbestand so auch unangemessene Formen der Strafverfolgung. Dies gilt sowohl für die Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit als auch die Belastungen durch die Strafverfolgung in Form von Stigmatisierung und Eingriffen durch Ermittlungs- und Zwangsmaßnahmen sowie mögliche Sanktionierungen. Angesichts dessen ist eine Neubegründung der Einschränkungen des Tatbestands notwendig. Dogmatisch konsequent ist eine strafverfassungsrechtliche Einschränkung über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die unangemessene Strafverfolgungen im Wege der Gesamtabwägung anhand der dargestellten Kriterien aus dem Anwendungsbereich des § 129 StGB herausnimmt. Indes bleibt sehr fraglich, inwieweit eine solche Lösung in der Praxis tatsächlich Wirksamkeit erlangen kann. Den Strafverfolgungsbehörden verbleiben hier erhebliche Spielräume, die gerichtlich nur sehr eingeschränkt überprüft werden (können), so dass die Durchsetzung dieser Grenzen in der Praxis im Verhältnis zu ihrer dogmatischen Begründung als sehr viel größeres Hindernis erscheint.“ (Singelnstein/Winkler 2023, Rn. 24)

Damit bestätigt sich die Kritik an den Ermittlungsbehörden und Politiker*innen: „Die Aktivisten in der letzten [sic!] Generation sind besonders von Politikerinnen von Anfang an diffamiert und kriminalisiert worden und mit Ausdrücken wie Terroristen oder Ungeziefer bezeichnet worden“ (Gürtler 2023).

Der UN-Sonderberichterstatter für Umweltschützer, Michael Forst, schreibt in einem kürzlich vorgelegten Bericht über die „staatliche Unterdrückung von Umweltprotest und zivilem Ungehorsam“, dass der Freistaat Bayern „in bestimmten Fällen die Ausübung des Demonstrationsrechts behindert“ (Balbierer 2024).

Der Experte der Vereinten Nationen kritisiert den Präventivgewahrsam gegen Aktivist*innen der „Letzten Generation“, die in den Jahren 2022 und 2023 regelmäßig Straßen blockiert haben, um für eine konsequentere Klimapolitik zu demonstrieren. Die Kritik fußt auf der Tatsache, dass die bayerische Polizei streng gegen die „Letzte Generation“ vorgeht. „In zahlreichen Fällen, z.B. in München, Nürnberg oder Passau, nahm sie Mitglieder der Protestgruppe fest und sperrte sie für mehrere Tage oder gar Wochen ein – um weitere Störaktionen zu vermeiden“ (Balbierer 2024). Balbierer weist darauf hin, dass die CSU das Polizeiaufgabengesetz im Jahr 2018 unter großen Protesten verschärfte und die Präventivhaft als „Waffe gegen Terrorverdächtige“ gerechtfertigt hat. Dass sie regelmäßig gegen „friedliche Klimaaktivisten“ angewendet wird, kritisiert Forst in deutlichen Worten: „Indem sie Umweltaktivismus als mögliche Terrorbedrohung einstufen, die Meinungsfreiheit beschränken und bestimmte Protestformen sowie Demonstranten kriminalisieren, tragen solche legislativen und politischen Entscheidungen dazu bei, dass der zivile Raum schrumpft und die Vitalität demokratischer Gesellschaften ernsthaft gefährdet wird“ (Balbierer 2024). Und der UN-Menschenrechtler sieht sogar eine „Bedrohung der Menschenrechte und der Demokratie […]. Statt Klimaaktivisten müsse der Staat das wahre Problem bekämpfen: Die Klimakrise“ (Balbierer 2024).

Die kritische Auseinandersetzung „zwischen Präventivhaft, Polizeigewalt und Spaltung der Gesellschaft“ wird von der Medienethik-Professorin Paganini in einem Interview wie folgt beschrieben:

„‚Es ist ein Armutszeugnis, dass eine politische Führung für solche Menschen keine andere Antwort parat hat, als sie wegzusperren‘, kritisiert Claudia Paganini die Maßnahme der Präventivhaft scharf. Sie nimmt die jungen Demonstrant*innen als Menschen mit extrem hohen moralischen Standards wahr, die empathisch und verantwortungsbewusst sind und ihre eigenen Interessen zurückstellen. Also genau die Merkmale, die eine funktionierende Demokratie laut Paganini an ihre Bürger*innen stellen sollte.“ (Gürtler 2023)

Damit ist die Frage der Strafbarkeit – auch für die Bauernproteste noch mitten in der Diskussion und nicht höchstrichterlich entschieden, als der 32-jährige Philipp George sich im Februar 2022 an mehreren Blockaden in Freiburg beteiligt hatte, „gegen eine aus seiner Sicht verfehlte Klimapolitik, aber auch gegen Lebensmittelverschwendung“ und vom Amtsgericht Freiburg freigesprochen wurde. Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat diesen Freispruch jetzt aufgehoben (Janisch 2024). Janisch führt aus:

„Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu den Bauernprotesten, jedenfalls zu den Aktionen, die vorher angekündigt worden sind. Allein die Verkehrsbehinderungen, die von einer Kundgebung ausgeht, begründet noch keine Strafbarkeit. Demonstrationen beeinträchtigen notgedrungen die Belange anderer Menschen. Mal muss man sie weiträumig umfahren, mal ist es schwierig, an den Protestierenden vorbei in die Innenstadt zu gelangen. Das ist keine Nötigung, denn schließlich gilt Versammlungsfreiheit. Bei einigen massiven Blockaden in jüngster Zeit könnte dies freilich anders zu bewerten sein. In der Dauer und Intensität der Klimablockaden lag auch der Grund, warum das OLG den Freispruch kassiert hat: Aus dem Urteil des Amtsgerichts sei nicht zu entnehmen, wie lange die Beeinträchtigungen wirklich gedauert hätten. ‚Mit dem Wegtragen der Aktivisten war die Blockade ja nicht beendet‘, erläutert die Vorsitzende Richterin Annette Beese. Hier wird das Amtsgericht nacharbeiten müssen.“ (Janisch 2024)

Damit wird deutlich, dass die auf Antrag des HU-Regionalverbands Marburg zur Mitgliederversammlung der Humanistischen Union am 14./15.10.2023 verabschiedete Resolution „Keine Kriminalisierung friedlicher Klimaproteste“ in diesen Zeiten eine besondere Bedeutung hat (Mitgliederversammlung der Humanistischen Union 2023).

 

Prof. Dr. Ernst Fricke ist Rechtsanwalt und Honorarprofessor für Medienrecht und Gerichtsberichterstattung an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt sowie Autor des Lehrbuchs Recht für Journalisten. Zudem ist er seit Oktober 2023 Mitglied des Bundesvorstandes der Humanistischen Union und Mitglied der Redaktion der vorgänge.

 

Literaturi

AG Tiergarten 2022a: Urteil vom 30.08.2022, Az. (422 Cs) 231 Js 1831/22 (11/22) Jug. https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/KORE556952023.

AG Tiergarten 2022b: Beschluss vom 05.10.2022, Az. (303 Cs) 237 Js 2450/22 (202/22). https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/KORE500362023.

AG Tiergarten 2022c: Beschluss vom 20.10.2022, Az. (298 Cs) 237 Js 2481/22 (167/22). https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/JURE230053326.

Balbierer, Thomas 2024: UN-Experte rügt Bayern Härte gegen Klimaaktivisten, in: Süddeutsche Zeitung vom 05.03.2024.

beck-aktuell 2023: LG München I bejaht Anfangsverdacht: Letzte Generation als kriminelle Vereinigung, in: beck-aktuell vom 23.11.2023, https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/lg-muenchen-i-staatsanwaltschaft-darf-gegen-letzte-generation-wegen-verdachts-krimineller-vereinigung-ermitteln.

BILD 2024: Mist auf der Straße! Fünf Verletzte bei Bauern-Protesten, in: BILD-Zeitung vom 05.03.2024.

Breitinger, Matthias 2023: Staatsanwaltschaft prüft Fälle: Wie weit darf der Bauernprotest gehen? In: swr.de vom 30.12.2023. https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/bauern-protest-galgen-umgedrehte-ortsschilder-100.html.

Bundesverfassungsgericht 2023: Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2021 ist nichtig. Pressemitteilung Nr. 101/2023, in: bundesverfassungsgericht.de vom 15.11.2023. https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/bvg23-101.html.

Giese, Stefan 2023: Zum Glück sind Bauern keine Klimakleber! In: swr.de vom 21.12.2023. https://www.swr.de/swraktuell/bauern-proteste-klimakleber-kolumne-100.html.

Glück, Christina 2024: Bauernproteste! Strassenblockaden. Sind diese strafbar? Was ist der Unterschied zu den Klimaklebern? In: Youtube.com vom 02.02.2024. https://www.youtube.com/watch?v=XII-LwbMJtw.

Gürtler, Christian 2023: Interview mit Vincent Schäfer und Claudia Paganini – Einblick in die „Letzte Generation“: Zwischen Präventivhaft, Polizeigewalt und Spaltung der Gesellschaft, in: Sonntagsblatt.de vom 01.10.2023. https://www.sonntagsblatt.de/artikel/gesellschaft/einblick-die-letzte-generation-zwischen-praeventivhaft-polizeigewalt-und.

Heil, Judith Marina/Vogt, Antonia 2023: „Mitgegangen, mitgehangen“? – Zur Frage einer Einordnung der Letzten Generation als kriminelle Vereinigung nach § 129 StGB, in: Juristische Arbeitsblätter – Zeitschrift für Studium und Referendariat, H. 11, S. 881 – 887.

Janisch, Wolfgang 2024: Wo fängt Nötigung an? In: Süddeutsche Zeitung vom 21.02.2024.

LG München I 2023: Beschluss vom 16.11.2023, Az. 2 Qs 14/23.

Landshuter Zeitung 2024: Bauernprotest: Traktor fährt Mann über den Fuß, in: Landshuter Zeitung vom 02.03.2024.

Laufmann, Peter 2024: Blockade, Misthaufen, Galgen: so ist die Rechtslage für Protestbauern, in: agrarheute.com vom 05.01.2024. https://www.agrarheute.com/politik/blockade-misthaufen-galgen-so-rechtslage-fuer-protestbauern-614967.

Leitner, Christine 2024: Warum Letzte Generation und Landwirte nicht gemeinsam protestieren, in: stern.de vom 30.01.2024. https://www.stern.de/gesellschaft/klima–warum-letzte-generation-und-bauern-nicht-gemeinsam-protestieren-34363196.html.

Mitgliederversammlung der Humanistischen Union 2023: Keine Kriminalisierung friedlicher Klimaproteste, in: humanistische-union.de vom 17.10.2023, https://www.humanistische-union.de/pressemeldungen/keine-kriminalisierung-friedlicher-klimaproteste/.

OVG Berlin 2024: Beschluss vom 06.01.2024, Az. OVG 1 S 3/24. https://openjur.de/u/2480447.html.

Preuß, Tamina 2023: Die strafrechtliche Bewertung der Sitzblockaden von Klimaaktivisten, in: NZV 2023, Nr. 60.

Rath, Christian 2024: Bauernproteste sind überwiegend legal, in: Legal Tribune Online vom 08.01.2024. https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bauern-proteste-landwirtschaft-subventionen-agrardiesel-ampel-bundesregierung/.

Singelnstein, Tobias/Winkler, Dennis 2023: Wo die kriminelle Vereinigung beginnt – Zur strafverfassungsrechtlichen Reduktion von § 129 StGB, in: NJW, Jg. 76, H. 39, S. 2815ff.

Süddeutsche Zeitung 2024: Bauern demonstrieren an Autobahnauffahrten in ganz Bayern, in: Süddeutsche Zeitung vom 31.01.2024. https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-bauern-autobahnen-protest-1.6341470.

VG Potsdam (2024): Beschluss vom 05.01.2024, Az. VG 3 L 8/24, Rn. 11. https://openjur.de/u/2480448.html.

ZEIT 2023: Letzte Generation: Behörden beschlagnahmen zu viel Geld, in: Die Zeit vom 22.12.2023. https://www.zeit.de/news/2023-12/22/letzte-generation-behoerden-beschlagnahmen-zu-viel-geld.

Anmerkungen:

i Alle Internetquellen zuletzt aufgerufen am 04.03.2024.

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