Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 244: Identitätspolitik zwischen Selbstbestimmung und Abspaltung

Rezension: Trans­dis­zi­pli­näre Didaktik: (Wie) Kann Hochschul­lehre die Gesell­schaft verändern?

Philipp, Thorsten & Schmohl, Tobias (Hrsg.): Handbook Transdisciplinary Learning, transcript 2023, 428 S., 40,00 € bzw. open access als elektronische Ausgabe.

Vor dem Hintergrund drängender globaler Herausforderungen wie Klimawandel, Urbanisierung und Migration präsentiert das Handbook Transdisciplinary Learning innovative Wege in der Hochschulbildung, um diese und andere komplexen Herausforderungen zu bearbeiten. Im Unterschied zur bekannteren „Interdisziplinarität“ bezieht „Transdisziplinarität“ nicht nur akademisches Wissen, sondern auch Erfahrungen aus der Praxis ein. Transdisziplinäres Lernen wird sodann als ein umfassender universitärer wie gesellschaftspolitischer Innovationsprozess verstanden, der bestehende Ansätze zusammenführt: „transdisciplinary learning does not create a new field, it enriches existing ones“ (19). Der Fokus liegt auf der Integration pluraler Wissensbestände – wie können Theorie und Praxis miteinander verbunden werden, um sowohl ein tieferes Verständnis als auch wirksamere Handlungsempfehlungen zu erarbeiten?

Thorsten Philipp und Tobias Schmohl liefern einen profunden Beitrag zum internationalen Diskurs über Transdisziplinarität. Hierbei richten sie ihren Fokus auf theoretische wie praktische Implikationen für die Hochschullehre, wobei sie ausdrücklich eine globale Ausrichtung anstreben. Der Sammelband hat zum Ziel, den Zugang für „students, researchers, educators, and practitioners“ zu erleichtern und zur Bildung einer „community of professionals and students devoted to transdisciplinary learning“ (9) beizutragen.

Hierfür bietet das Handbuch neben einem Vorwort und einer theoretischen Einführung in transdisziplinäre Zugänge und Zielsetzungen 36 Fachartikel, die verschiedenste Aspekte transdisziplinärer Forschung und Lehre vorstellen. Diese können in folgende Themenfelder gegliedert werden:

  • theoretische Ansätze (boundary work, interdisciplinarity, mode 2, participatory action research, transdisciplinarity),

  • didaktische Zugänge (education for sustainable development, engaged learning, entrepreneurship education, global citizenship education, learning in transformation, research-based education, transformative learning),

  • didaktische Formate (citizen science, case studies, cooperative education, experiment, fablabs, hackatons, internships, living labs, real-world labs, science shops, student-organised teaching),

  • Fähigkeiten und persönliche Ressourcen (critical thinking, data literacy, feedback literacy, personal sustainability, research integrity),

  • Praktiken (design thinking, knowledge transfer, science communication, scrum, storytelling),

  • Wissensressourcen (indigeneous, performative, scientific knowledge, embodied learning).

Jeder Artikel folgt einem einheitlichen Aufbau (Definition, Hintergrund, Debatte und Kritik, gegenwärtige Umsetzungsformen) und erleichtert es damit, sich die Vielfalt transdisziplinärer Praktiken zu erschließen. Insbesondere die Frage nach konkreten Umsetzungsformen ist angesichts des globalen Anspruchs des Buches jedoch überaus herausfordernd und lässt notwendig Raum für individuelle Einschätzungen. Diese Pluralität ist aber durchaus bereichernd, zumal bereits die Einleitung einräumt, dass das Bestreben, Überblicke und Zusammenfassungen zu liefern unvermeidbar einhergeht mit „concealing an infinite number of divergent practices“ (9).

Die vielfältigen Darstellungen der Hintergründe, Debatten und Kritiken ermöglichen in der Gesamtschau ein tiefes Verständnis des transdisziplinären Diskurses, seiner Prämissen, Ziele und Wege. Transdisziplinarität hat demnach den Anspruch, herkömmliche Vorstellungen von Wissenschaftskommunikation sowie -ermittlung und Lernen in Frage zu stellen. An die Stelle linearer „Dissemination“ tritt eine tiefgreifende Arbeit an den Grenzen pluraler Wissensbestände mit dem Ziel „to elaborate on differences while differentiating and thereby laying the ground for integration“ (25). Idealerweise durchdringt das transdisziplinäre Lernen verschiedene Ebenen, ähnlich einem Rhizom, einem dezentralen und nichthierarchischen Wurzelsystem (14f.) und vermeidet festgelegte Strukturen. Die Dichotomie zwischen Lehrenden und Lernenden soll zugunsten einer gegenseitigen Irritation und Inspiration aufgehoben werden. Dieser Paradigmenwechsel verleiht dem transdisziplinären Lernen eine zusätzliche Dimension, indem es nicht nur als Öffnungs-, Anerkennungs- und Umverteilungsprozess fungiert, sondern auch bewusst von Desorientierung, Verwirrung und Konflikt geprägt ist (9).

Ob dieser Anspruch in der Praxis erfüllt wird und erfüllbar ist, mag Gegenstand weiterer Diskussionen sein. Gerade die eigene Irritation stellt naturgemäß eine besondere Herausforderung für Lehrende dar, insbesondere im leistungsbewertenden Hochschulsystem. Leider bietet das Handbuch hierfür kaum Hilfestellungen. Das Thema wird zwar in einem der Artikel (feedback literacy von Schluer, Rütti-Joy und Unger) aufgegriffen, doch bleibt es hier bei Verweisen auf Hindernisse und zu entwickelnde Ressourcen (160). Einige weitere Artikel hätten daher dem Praxis- und Diskussionsanspruch des Buches gut getan, zum Beispiel zu konkreten Reflexionsmethoden, gelingender inter- beziehungsweise transdisziplinärer Kommunikation oder auch zum politischen Anspruch von reponsible research sowie impact. Auch die Frage der normativen Ausrichtung wird nicht explizit adressiert, so dass offenbleibt, in welchem Verhältnis wissenschaftliche, zivilgesellschaftliche und industrielle Interessen zueinander stehen. Für Leser*innen ohne Vorkenntnisse hätte eine inhaltliche Strukturierung der Beiträge den Einstieg in das Themenfeld erleichtert, für Rezipient*innen mit Vorkenntnissen bietet die alphabetische Reihenfolge wiederum Vorteile beim Nachschlagen.

Das Handbook Transdisciplinary Learning ist eine umfassende Erkundung transdisziplinären Lernens und Lehrens. Es gelingt den Herausgebern, erstmals einen Überblick und eine Zusammenfassung über die Vielzahl divergierender Praktiken und ihrer theoretischen Bezüge zu geben. Es wird deutlich, dass transdisziplinäre Didaktik nichts ist, was mal eben nebenbei „genutzt“ werden kann, um schnell „messbare Erfolge“ zu erzielen. Die Auswahl der Artikel spiegelt das bewusste Bestreben wider, die Breite der Perspektiven auf transdisziplinäres Lernen zu erfassen. Auch wenn das Buch in seinem Umfang notwendigerweise begrenzt ist, gelingt es ihm, die verschiedenen Facetten des Gegenstands zu erfassen. Besonders erfreulich ist die Berücksichtigung üblicherweise vernachlässigter Aspekte wie feedback literacy (siehe oben) oder research integrity (von Alavi und Schmohl), denn diese sind entscheidende Komponenten transdisziplinärer Lernerfahrungen. Darüber hinaus regt das Handbuch dazu an, das Zusammenspiel zwischen theoretischen Grundlagen und praktischen Anwendungen eingehender zu untersuchen. Gleichzeitig werden Bezüge zu den gesellschaftlichen Auswirkungen universitären Lernens hergestellt und für dynamische und inklusive Formate plädiert. Dieser Blickwinkel hebt die soziale Verantwortung und den möglichen Beitrag engagierter Hochschullehre zur demokratischen Partizipation hervor.

Das Handbook Transdisciplinary Learning ist ein fundierter und wichtiger Beitrag zum laufenden Diskurs über die Hochschulbildung und ihre Rolle in und für die Gesellschaft, der auch in der Zeitschrift GAIA und der neugegründeten Gesellschaft für Transdisziplinäre und Partizipative Forschung sichtbar wird. Es ist ein praktisches Nachschlagewerk für Studierende, Lehrende und Forschende, die sich mit dem transdisziplinären Lernen als eine kritische Antwort auf die komplexen Herausforderungen der Zeit auseinandersetzen wollen.

Ein besonderes Verdienst ist die Zusammenführung verschiedener Diskurse, wodurch neben neueren Ansätzen wie indigenous knowledge (von Hunte et al.) auch Althergebrachtes wie experiment (von West, Böttger und Tang) oder internship (von Terhart und Weyland) neu bewertet werden können. Die Betonung der gesellschaftsgestaltenden Rolle von Hochschulen und der Inklusion verschiedener Perspektiven bei der Bewältigung aktueller Herausforderungen verleiht dem Handbuch eine zusätzliche Bedeutung und führt dazu, dass es nicht nur informativ, sondern auch ein Aufruf zum Handeln und der Auseinandersetzung mit dem geforderten Paradigmenwandel ist. Als Anregung zur kritischen Diskussion ermutigt das Handbuch das Nachdenken über den dynamischen und mitunter konflikthaften Charakter transdisziplinären Lernens.

Katarina Marej

nach oben