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Rezension: Gegen die Klimakrise mit Postka­pi­ta­lis­mus?

Andreß, Toni: Das Postkapitalistische Manifest. Wie wir unsere Wirtschafts- und Umweltkrisen lösen können. Oekom Verlag 2022, 522 S., 36,00 €.

Toni Andreß hat berufliche Erfahrung im Bereich Marketing für Wirtschaftskonferenzen und als Berater im Bereich der Gebäude- und Energietechnik. Dieses Buch ist sein Resümee 20-jähriger Befassung mit wirtschaftspolitischen Fragen und Umweltproblemen. Dementsprechend sehen Leser*innen sich einem umfangreichen Buch mit 500 Seiten Text und circa 200 Seiten Anmerkungen und Quellenverzeichnissen gegenüber.

Im Vorwort weist Andreß auf die generelle Gesellschaftskritik am Kapitalismus hin. Es fehlt offensichtlich ein Gegenentwurf. Für eine solchen hält Andreß den Begriff Postkapitalismus, der eine Brücke zwischen Kapitalismus und Kommunismus ein solle (12). Seine Grundannahmen basieren jedoch auf den Ideen der Freiwirtschaftslehre und des Keynesianismus. Grundbetrachtungen beziehen sich auf Emissionshandel, bedingungsloses Grundeinkommen, Freihandel und Weltwährung. Analog zur Freihandelslehre und zum Postkeynesianismus fordert er eine Reform des Geldsystems und eine Versorgung der Realwirtschaft mit günstigen Krediten. Entsprechend der Bonität sollten nur Verwaltungskosten erhoben werden. Die Rückzahlung der Kredite sollte durch angemessene Tilgungsraten ohne Zinsen erfolgen. Die Umsetzung der Freiwirtschaftslehre sollte zeitgemäßer durch digitales Zentralbankgeld erfolgen, strittig bleibt dabei ob verzinst, zinslos oder sogar mit negativem Zins.

Andreß hat sich in seiner Analyse in einzelnen Kapiteln in Form von wirtschaftlichen Problemen sowie Umwelt und Klimafragen, Lösungsansätzen, Handlungsansätzen und sich den daraus ergebenen Auswirkungen befasst. Die konkreten Themen sind Kapital, Umwelt, Arbeit und Markt. In Anwendung der Freiwirtschaftslehre und des Neokeynesianismus untersucht Andreß systematisch den Status quo, Geschichte und Perspektiven oder Auswege hinsichtlich der Finanzkrisen, der Überschuldung und der Vermögensungleichheit.

Aus den Finanzkrisen, verstanden als Marktversagen, erfolgen erhebliche Kosten für die Gemeinschaft. Aus dieser desaströsen neoliberalen Politik und Wirtschaft ergeben sich Überschuldung, Reduzierung staatlicher Souveränität und ungleiche Vermögensverteilung (24). Entsprechend der Freiwirtschaftslehre und auch dem Keynesianismus sollte Geld zu geringen Kosten, im Grenzfall nur Verwaltungskosten, zur Verfügung gestellt werden. Niedrige Zinsen und geringe Inflation wären gut zu vereinbaren (43), sofern ein Gegenwert von Waren und Dienstleistungen vorhanden ist. Zinsen sieht Andreß als Ursache ungleicher Vermögensverteilung. „Gemäß der Freiwirtschaftslehre ist die Wirtschaft durch den Zins einem ständigen Wachstumszwang ausgesetzt” (48). Bei geringen Zinsen würde ein Wirtschaftswachstum begünstigt, das in Verbindung mit entsprechender Bepreisung des Umweltverbrauchs eine ökologische Wende ergäbe. Diese Erwartung widerspricht der herrschenden neoliberalen Ökonomie, in der der Zins eine immanent wichtige Lenkungsfunktion hat und derzufolge das Kapital so seine beste Verwendung findet. Ein Abschied vom Wachstum fordert Andreß aber nicht; es soll durch Begrenzung der Zinsen und Umweltabgaben neu orientiert werden.

Einen Schwerpunkt des Buches nimmt die Auseinandersetzung mit der Umweltzerstörung ein. Dabei beschränkt Andreß sich nicht auf die CO2-Emissionen und die damit verbundene Erderwärmung. Die Umweltbelastung vieler Stoffe eingesetzt für Produktion und Konsum, wird detailliert beschrieben und belegt durch ausführliche Anmerkungen. Auch werden Erfahrungen mit den FCKW-Regeln untersucht. In den Handlungsempfehlungen plädiert der Autor für Emissionsrechte, begleitet von wirksamen Marktregulierungen. Die Entwicklung erneuerbarer alternativer Energien würde so beschleunigt. Die Analyse der Umweltproblematik ist der Kern des Buches und könnte mit einem Umfang von circa 200 Seiten auch eine eigenständige Monographie sein. Im Ergebnis sollen die Begrenzung und Bepreisung der Emissionen und des Einsatzes schädlicher Stoffe den Markt veranlassen, ökologisch wirksame Investitionen hervorzubringen. Zum Teil etwas unbefangen werden die möglichen technischen Optionen betrachtet, durchaus im Sinne einer unkritischen Technologie Offenheit.

In dem Kapitel zur Lohnarbeit wird für ein bedingungsloses Grundeinkommen argumentiert. Gleichzeitig werden die Alternativen zum Grundeinkommen, nämlich eine Erweiterung der bestehenden Sozialversicherungsbezüge sowie die liberalen und konservativen Positionen erwähnt. Andreß befürwortet ein Grundeinkommen in einer Höhe von 2000 Euro monatlich. Er erwartet positive Effekte für Erwerbstätigkeit, Lohnniveau, Arbeitszeit, Arbeitsproduktivität und Umgang mit der Etablierung künstlicher Intelligenz. Begleitet von einem höheren Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent für alle Güter, einer angemessenen Vermögenssteuer und der Einführung einer Finanztransaktionssteuer sei so eine Finanzierung möglich. Sinkende Arbeitszeiten würden durch höhere Produktivität ausgeglichen werden. Unbeachtet bleibt dabei der Verlust einer solidarischen Gesellschaft, der Mensch wird auf die Selbstverantwortung als Orientierung verwiesen. Die Bevölkerung wäre abhängig von der Finanzierung, und wäre die nicht erfolgreich, bliebe er ohne Schutz durch soziale Einrichtungen.

Die Betrachtung zum Markt konzentriert sich auf den Welthandel und die damit verbundenen Konzepte der Subventionen, Einfuhrkontingente, Schutzzölle, Einwanderung und Schatten-Finanzplätze. Freihandel betrachtet Andreß historisch und als untrennbar mit dem Wirtschaftsliberalismus verbunden. Ergänzt durch soziale Marktwirtschaft wird deren gegenseitige Bedingung postuliert. Andreß zufolge sind Einfuhrkontingente, Schutzzölle und Regelung der Einwanderung abzulehnen. Lediglich die Einhaltung von Umweltstandards, die Teilnahme am Emissionshandel und globale Mindeststeuern auf Unternehmensgewinne, Kapitaleinkommen und Vermögen werden gefordert. Gänzlich unbeachtet bleibt dabei das Kapital, geprägt durch Privateigentumsrechte an Boden, Vermögen und Patenten, geschützt durch weltweit geltende Rechte, die Ursprung für die Renditen der Privateigentümer sind. Die damit verbundene kolonialistische Ausbeutung des globalen Südens wird nicht thematisiert.

Die Funktion von WTO und GATT im Zusammenhang mit dem Weltwährungssystem werden angesprochen und ihre Entwicklung aufgezeigt. Andreß fordert eine Ermächtigung der WTO sowie die Einführung einer internationalen Gerichtsbarkeit, um die Ansprüche aller zu gewährleisten. Hier wird auch wieder mit Bezug auf Keynes die Rolle des US-Dollars in Frage gestellt und die Einführung einer neuen internationaler Reservewährung gefordert (290).

Ergibt die Gesamtbetrachtung ein kohärentes Bild? Aus Sicht des Rezensenten wird folgender Bogen gespannt: Über die Einführung von Krediten zu niedrigen Zinsen oder zinslos und der damit verbundenen Freiheit für Investitionen und dem Einsatz von Beschränkung der Umweltschäden durch strikte Regeln und Bepreisung wird ein Weg für den ökologischen Umbau der Wirtschaft aufgezeigt. Bei einer Neuorientierung der Arbeit durch Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens und der damit verbundenen Produktivitätsentwicklung wird ökologisch sinnvolles Wachstum erwartet.

Der Rezensent kann hier kein postkapitalistisches System erkennen. Der Begriff Kapital wird in seiner Substanz nicht erläutert und seine Bedeutung für das ökonomische System nicht hinterfragt. Wie wird Kapital erzeugt, und wie privilegiert er seinen Besitzer? Sein Charakter ist definiert durch Beständigkeit, welche die Ansprüche zeitlich ausdehnt, Universalität, die räumliche Ausdehnung beschreibend, und seine Konvertierbarkeit, die Vermögensinhaber ermöglicht, bei Bedarf Kapital in Staatsgeld umzuwandeln. Der Kapitalismus bliebe somit erhalten (vgl. Pistor 2020: 18).

Viele der aufgeführten Punkte ähneln den Diskussionen im Postkeynesianismus. Insbesondere die Geldversorgung, die Verteilung von Vermögen und Einkommen, niedrige Zinsen und niedrige Arbeitslosigkeit stehen auch hier im Zentrum (vgl. King 2022: 137).

Betrachtet man den aktuellen Diskurs über Wirtschaftspolitik, kann man nur feststellen, dass die neoliberalen Positionen immer noch hegemonial sind. Andreß versucht hier eine Fortschreibung unter Berücksichtigung ökologischer Aspekte. Andreß’ Buch kann Leser*innen mit Gewinn eine Gesamtschau vermitteln, ohne sich in den Tiefen der klassischen Ökonomie zu verlieren. Das Buch beschreibt die unterschiedlichen Kritik-themen am bestehenden Wirtschaftssystem, und die Fortsetzung reflektiert vielleicht die Strategie des grünen Wirtschaftswachstums. Eine grundsätzliche Kritik an den Prinzipien von Kapital und Wettbewerb ist aber nicht gegeben. Bemerkenswert ist dafür die umfangreiche und sorgfältige Ausarbeitung der Themen.

 

Zusätzlich verwendete Literatur:

King John E. 2022: Post-Keynesianismus, Wien.

Pistor Katherina 2020: Der Code des Kapitals, Berlin.

Werner Bergmann

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