Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 244: Identitätspolitik zwischen Selbstbestimmung und Abspaltung

Editorial

Der Begriff Identitätspolitik hat es innerhalb kurzer Zeit geschafft, ein hochemotional aufgeladener und meist negativ besetzter Kampfbegriff im politischen Diskurs zu werden. Diese Aufladungen und die Zuschreibung von Handlungen bestimmter Akteur*innen zur Identitätspolitik sorgen dafür, dass auch zusehends unklar wird, welche Gruppen, Akteur*innen und neue soziale Bewegungen identitätspolitisch sein sollen und was das über sie aussagt. Was ist überhaupt diese Identitätspolitik, von der alle immer reden?

Identitätspolitik meint meist die Zuschreibung eines politischen Handelns, bei der Bedürfnisse einer spezifischen Gruppe, die eine gemeinsame Identität bilden oder annehmen, im Zentrum stehen, mit der generellen Stoßrichtung, dieser Gruppe mehr soziale Anerkennung zu verschaffen. Meist wird darunter also der Kampf einer (oft sexuellen, ethnischen oder religiösen) Minderheit um die Anerkennung des Selbstverständnisses verstanden. Damit sind auch Antidiskriminierungsprinzipien und das Pochen auf individuelle Autonomie oder auch die kollektive Selbstbestimmung sowie eigenständige Identitätsbildung einer gesellschaftlichen Minderheit impliziert. Würde man die Identitätspolitik ausschließlich so begreifen, dann wäre sie stets ein elementares und legitimes Anliegen bürger- und menschenrechtlicher Akteur*innen und auch ganz sicher nicht erst ein Phänomen des 21. Jahrhunderts, sondern schlicht der Moderne.

Gleichzeitig ist die Identitätspolitik nicht nur ein Kampf um Anerkennung im Sinne von Axel Honneths gleichnamigen Buch, sondern ein sozialer Triggerpunkt, wie es jüngst Steffan Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser in ihrem Buch Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft (Berlin 2023) beschrieben haben. Häufig in der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit stehen dann Begriffe und Konzepte, die die Identitätspolitik berühren, wie „Wokeness“, eine vermeintliche Cancel Culture, Diversität und in Deutschland der Genderstern und das Selbstbestimmungsgesetz. Wieso ist das so, und wieso triggert dies nicht nur rechte und konservative, sondern auch linke und liberale Personen und Gruppen? Das liegt daran, dass man, so Georg Auernheimer in seinem Buch Identität und Identitätspolitik (Köln 2020), Identitätspolitik in dreierlei Hinsicht verstehen kann: erstens, als (neue) soziale Bewegung einer sich selbst zugeschriebenen oder akzeptierten Identität (wie Antirassismus- oder Homosexuellenbewegungen), zweitens als fundamentalistische Bewegung und drittens als rechtkonservative und rechtsextreme Politiken (wie die Bewegung der „Identitären“). Während Erstere als menschen- und bürgerrechtliche Bewegung von Minderheiten eingestuft werden kann, ist das Dritte typisch reaktionär, naturalistisch und negiert andere Identitätspolitiken oder Rechte von Minderheiten. Die fundamentalistischen Bewegungen wiederum seien ideologisch, militant, missionarisch und emotional.

Nun ist im Einzelfall fraglich, wer zum ersten oder zweiten Typus gehört, weswegen dies im öffentlichen Diskurs meistens vermischt wird. Daraus folgen auch die traditionell linken emanzipatorische Kritiken an Identitätspolitiken: Ein Vorwurf ist genau die moralisierende Emotionalisierung, welche Sozialkritik verhindere. Darüber hinaus sieht die linke Kritik im (berechtigten) Interesse der Anerkennung eher eine Tendenz zur gesellschaftlichen Spaltung und Konkurrenz verschiedener diskriminierter oder unterdrückter Gruppen im Aufmerksamkeitskampf. So trage Identitätspolitik nicht zur Solidarität bei und lasse bei der Kulturalisierung (oder Naturalisierung) der Identität sozioökonomische Unterschiede gänzlich außer Acht. Dadurch bliebe kein Raum mehr für Kapitalismuskritik oder gesamtgesellschaftliche Kritik. So würden sich Identitätspolitiken – samt der Betonung von Diversität und Inklusion – eher in den (progressiven) Neoliberalismus einfügen, statt soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Hinzu kommen auch Vorwürfe von verschiedenster Seite, dass (vermeintlich) identitätspolitische Akteur*innen zur Selbstviktimisierung oder, statt zur Gleichbehandlung, vielmehr zur Sonderbehandlung bestimmter Gruppen beitrügen.

Dieses Spannungsverhältnis aus Antidiskriminierung und Selbstbestimmung einerseits und der Kritik gesellschaftlicher Spaltung und des Verlusts eines emanzipatorischen Potenzials müssen auch menschen- und bürgerrechtliche Organisationen, wie die Humanistische Union, untersuchen. Ohne sich den gegenwärtigen polemischen Debatten zu ergeben, soll es daher im vorliegenden Heft der vorgänge aus bürgerrechtlicher und gesellschaftspolitischer Perspektive darum gehen, ausgewählte Bestrebungen und Bedürfnisse, die unter dem Begriff Identitätspolitik subsumiert werden, zu analysieren und gesellschaftlich und juristisch zu kontextualisieren, um über Fragen der Legitimität bestimmter Politiken und die grundrechtlichen Bezüge zu diskutieren – abgekühlt, aber dennoch bürgerrechtlich engagiert. Gerade da Identitätspolitik sich nicht trennscharf definieren lässt und auch der öffentliche Diskurs darüber ausfranzt, ist es uns sicherlich nicht möglich, in diesem Heft alle Aspekte und Themen, die irgendwie als identitätspolitisch verstanden werden, zu behandeln.

Den Anfang macht Jörg Scheller mit seinem Beitrag zu den Möglichkeiten und Grenzen der Identitätspolitik. Scheller, ein Experte für Identitätspolitik, liefert eine differenzierte Einführung in das Thema und differenziert dabei auch zwischen rechter und linker Identitätspolitik.

Daran schließen einige politische und sozialwissenschaftlich orientierte Artikel an. Veith Selk und Olaf Jann betrachten insbesondere die Emotionalisierung politischer Debatten, die wiederum zur moralinsauren Lagerbildung führen, welche typisch für Identitätspolitiken seien. Damit liefern sie einem Beitrag zur Emotionstheorie. Dirk Jörke und Thorben Schurow schreiben eine Zeitdiagnose der Identitätspolitik. Ihnen zufolge werden identitätspolitische Anliegen (unabhängig von der Frage ihrer Legitimität) dazu dienen, dass neoliberale Regierungen politische Erfolge feiern können, welche sie zeitgenössisch mit sozialpolitischen Anliegen nicht erzielen können oder wollen. Philip Dingeldey teilt in seinem Beitrag einige der linken Kritikpunkte an der Identitätspolitik, fragt sich jedoch, ob mit Ansätzen einer intersektionalen Solidarisierung (und wenn ja, welchen) nicht beides denkbar sei: Antidiskriminierung, identitätspolitische Selbstbestimmung und Solidarisierung für ein emanzipatorisches Projekt.

Nach diesen allgemeinen politischen Analysen und Kritiken behandeln die darauffolgenden Beiträge juristische Aspekte der Identitätspolitik anhand von Rechten sexueller Minderheiten. Sarah Ponti untersucht die aktuelle rechtliche Lage von trans Personen, da gerade trans Menschen Identitätspolitik vorgeworfen wird, was sich insbesondere in der öffentlichen Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz zeigt. Dieses Gesetz, das dazu gedacht ist, dass Menschen unkompliziert und mit weniger paternalistischen Elementen ihren Geschlechtseintrag in Personaldokumenten ändern können sollen. Das Gesetz wird wiederum analysiert von Anna Lena Göttsche und Susanna Roßbach hinsichtlich der Frage, wie viel Selbstbestimmung in diesem Gesetz liegen wird und wo aus grundrechtlicher Perspektive noch Nachholbedarf ist.

Der Schwerpunkt wird abgerundet mit spezifischen und beispielhaften Aspekten im öffentlichen Diskurs. Während die meisten Beiträge in diesem Heft sich mit linksliberaler oder grundrechtlich verstandener Identitätspolitik befassen, beleuchtet Judith Goetz die Identitätspolitik von rechts am Beispiel der „identitären Bewegung“ in Deutschland und Österreich. Goetz ordnet diese als rechtsextrem ein. Wolfram Grams sieht sich den Zusammenhang zwischen Identitätspolitik und Inklusion im Bereich der Bildung an. Dabei konzentriert er sich auf die Inklusion behinderter Menschen und argumentiert dafür, dass hier eine bestimmte Identitätspolitik nötig ist, um eine Emanzipation zu erreichen, aber ohne die sozioökonomische Ungleichheit dabei zu ignorieren. In eine ähnliche Richtung geht Wolfram Grams‘ Interview mit Klaus Schepker und Franz Wagle. In dem Gespräch geht es um die psychiatrische Behandlung von Heimkindern und warum für diese gerade Identitätspolitik ein notwendiges Instrument der Befreiung und Aufarbeitung ist. Zudem trägt Daniel Stosiek einen autobiographischen Text zum Sozialismus in Deutschland vor und nach der Wende bei. Gibt es eine dezidiert ostdeutsche Identitätspolitik, und was haben DDR und Sozialismus damit zu tun?

Wie in jedem Heft versammeln wir auch in dieser Ausgabe wieder in der Rubrik Hintergrund Texte zu weiteren aktuellen bürgerrechtlichen Themen. So schreibt Ulrich Frey über die Rolle der Friedenspädagogik seit dem Ukrainekrieg. Ernst Fricke kritisiert die juristische und gesellschaftliche Ungleichbehandlung von protestierenden Bäuer*innen und Mitgliedern der „Letzten Generation“, was Straßenblockaden und das Recht auf Versammlungsfreiheit betrifft. Johann-Albrecht Haupt zeigt die Staatsleistungen der Bundesländer an die Kirchen im Jahr 2024 auf und analysiert eine mögliche Ablösung. Ebenso finden Sie in diesem Heft wieder Rezensionen zu aktuellen bürgerrechtlichen und gesellschaftspolitischen Büchern.

Ich wünsche Ihnen im Namen der gesamten Redaktion eine anregende Lektüre der neuen Ausgabe der vorgänge. Wir freuen uns auf Ihre Anregungen und Kritik.

Philip Dingeldey

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