vorgänge Nr. 244: Identitätspolitik zwischen Selbstbestimmung und Abspaltung

vorgänge Nr. 244: Identi­täts­po­litik zwischen Selbst­be­stim­mung und Abspaltung

Identitätspolitik bedeutet nicht nur ein Kampf um Anerkennung im Sinne von Axel Honneths gleichnamigen Buch, sondern ein sozialer Triggerpunkt, wie es jüngst Steffan Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser in ihrem Buch Triggerpunkte (Berlin 2023) beschrieben haben. Häufig in der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit stehen dann Begriffe und Konzepte, die die Identitätspolitik berühren, wie „Wokeness“, eine vermeintliche Cancel Culture, Diversität und in Deutschland der Genderstern und das Selbstbestimmungsgesetz. Wieso ist das so, und wieso triggert dies nicht nur rechte und konservative, sondern auch linke und liberale Personen und Gruppen? Das liegt daran, dass man, so Georg Auernheimer in seinem Buch Identität und Identitätspolitik (Köln 2020), Identitätspolitik in dreierlei Hinsicht verstehen kann: erstens, als (neue) soziale Bewegung einer sich selbst zugeschriebenen oder akzeptierten Identität (wie Antirassismus- oder Homosexuellenbewegungen), zweitens als fundamentalistische Bewegung und drittens als rechtkonservative und rechtsextreme Politiken (wie die Bewegung der „Identitären“). Während Erstere als menschen- und bürgerrechtliche Bewegung von Minderheiten eingestuft werden kann, ist das Dritte typisch reaktionär, naturalistisch und negiert andere Identitätspolitiken oder Rechte von Minderheiten. Die fundamentalistischen Bewegungen wiederum seien ideologisch, militant, missionarisch und emotional.

Dieses Spannungsverhältnis aus Antidiskriminierung und Selbstbestimmung einerseits und der Kritik gesellschaftlicher Spaltung und des Verlusts eines emanzipatorischen Potenzials müssen auch menschen- und bürgerrechtliche Organisationen, wie die Humanistische Union, untersuchen. Ohne sich den gegenwärtigen polemischen Debatten zu ergeben, soll es daher im vorliegenden Heft der vorgänge aus bürgerrechtlicher und gesellschaftspolitischer Perspektive darum gehen, ausgewählte Bestrebungen und Bedürfnisse, die unter dem Begriff Identitätspolitik subsumiert werden, zu analysieren und gesellschaftlich und juristisch zu kontextualisieren, um über Fragen der Legitimität bestimmter Politiken und die grundrechtlichen Bezüge zu diskutieren – abgekühlt, aber dennoch bürgerrechtlich engagiert. Gerade da Identitätspolitik sich nicht trennscharf definieren lässt und auch der öffentliche Diskurs darüber ausfranzt, ist es uns sicherlich nicht möglich, in diesem Heft alle Aspekte und Themen, die irgendwie als identitätspolitisch verstanden werden, zu behandeln.

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