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Der Bundes­ge­richtshof unter­schätzt Demon­s­tra­ti­ons­recht. Eine Erklärung der HU

vorgängevorgänge 9-196909/1970Seite 314
von vg

vorgänge 9/1969, S. 314

(vg) Die am 8. August verkündete Entscheidung des Zweiten Strafsenats des Bundesgerichtshofs, durch die der Kölner Freispruch für die Studenten Laepple und Lutzenberger aufgehoben wurde, gibt zur Stellungnahme Veranlassung, wobei bis zum Vorliegen der schriftlichen Fassung der Urteilsgründe zunächst nur an die durch die Presse bekannt gewordene mündliche Begründung des Senatspräsidenten angeknüpft werden kann.

  1. Wenn es richtig ist, daß der Bundesgerichtshof jeden Sitzstreik, der zu einer zeitweiligen Verkehrsbeschränkung führt, als eine rechtswidrige Nötigung ansieht, selbst dann, wenn es zu keinen Ausschreitungen, wie Körperverletzungen, Sachbeschädigungen u. ä., gekommen ist, so müssen dagegen schwerwiegende rechtliche Bedenken geltend gemacht werden. Eine solche Rechtsauffassung steht mit dem Grundgesetz nicht im Einklang. Das Demonstrationsrecht ist durch die Art. 5 und 8 des Grundgesetzes garantiert. Demonstrationen haben in der Regel vorübergehende Rechtseinschränkungen Dritter zur Folge. Wie weit diese Einschränkungen gehen dürfen, muß von Fall zu Fall unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände geprüft werden. Es geht nicht an, von vornherein jede Verkehrsbehinderung, selbst wenn sie nur eine Minute dauern würde, für rechtswidrig zu erklären. Insoweit hat der Bundesgerichtshof eine verfassungskonforme Auslegung der Bestimmungen des Strafgesetzbuchs versäumt.
  2. Die vorgenannte Rechtsauffassung des Zweiten Strafsenats widerspricht im übrigen der seit langem geübten Rechtspraxis. Es sei hier nur an Demonstrationen erinnert, bei denen es sich beispielsweise um politisch motivierte totale Verkehrsblockaden – sogenannte „Verkehrsstille“ – handelte, die seitens der Behörden ohne Berücksichtigung der Interessen der Verkehrsteilnehmer nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert wurden. Das neue Urteil, das zuungunsten von Minderheitsdemonstranten ergangen ist, kann den Anschein, daß hier bei der Anwendung des Nötigungstatbestandes mit zweierlei Maß gemessen wird, nur schwer vermeiden. Selbstverständlich dürfen Studenten keine Sonderrechte beanspruchen. Ihnen sollten aber die gleichen Rechte, die sich Mehrheiten nehmen, zugebilligt werden.
  3. Andererseits ist anzuerkennen, daß der Bundesgerichtshof den Freispruch der Studenten, soweit ihnen Beteiligung am Aufruhr und am Landfriedensbruch vorgeworfen war, nicht aufgehoben sondern bestätigt hat. In der Öffentlichkeit ist bisher nicht genügend beachtet worden, daß der Zweite Strafsenat den Begriff Gewalttätigkeit neu und genauer ausgelegt hat. Mit Recht weist er darauf hin, daß von der Begehung von Gewalttätigkeiten dann nicht gesprochen werden kann, wenn Demonstranten sich rein passiv verhalten und sich von Polizeibeamten wegtragen lassen. Insoweit werden manche Richter der ersten Instanz umlernen müssen.
  4. Eine abschließende Stellungnahme der Humanistischen Union wird nach Veröffentlichung der schriftlichen Urteilsbegründung erfolgen.
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