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Der politische Straf-Pro­zess

vorgängevorgänge 8003/1986Seite 48-57

Aus: vorgänge Nr. 80, Heft 2/1986, S. 48-57

Soweit die geschichtliche Erinnerung reicht, bestrafen Menschen ihre Mitmenschen. Wir haben heute ein voll entwickeltes Strafrechtssystem. Deshalb mag folgende Feststellung paradox klingen, dennoch ist sie wahr: noch ist es nicht gelungen, Einigkeit darüber herzustellen, warum wir bestrafen. Zwei Begründungsmuster stehen bereit, in welche sich die Strafrechtstheorien einordnen lassen: eine ethisch-religiöse Begründung, die durch. Frevel den Frieden der Menschen mit Gott gestört sieht und durch Strafe diesen Frieden wieder herstellen will. Die zweite Begründung sieht im Strafrecht eine Funktion des Staates, um die bestehende gesellschaftliche Ordnung gegen Störungen zu schützen. Sie allein vermag in einer modernen pluralistischen Demokratie das Strafrecht zu rechtfertigen. Und doch wirken stetig ethisch-religiöse Elemente in die moderne Strafrechtstheorie hinein, wie auch der tägliche Sprachgebrauch zeigt, wenn die ethische Verwerflichkeit einer Straftat angesprochen wird. So wenig wir über die Gründe des Strafens einig sind, so gut sind wir heute durch die Kriminologie über seine Wirkung unterrichtet: der bestrafte Täter wird in das Abseits der Gesellschaft gestellt, die Bevölkerung wird von der Durchsetzbarkeit strafrechtlicher Normen überzeugt, ihre »Rechtstreue« wird gestärkt, wie es schön-färbend genannt wird. So wird die Gesellschaft in ihrem gegenwärtigen Bestande bewahrt und damit auch das »oben« und »unten« in der Gesellschaft gefestigt.

Dies scheint mir heute die wichtigste Funktion des Strafrechts zu sein. Fast alle anderen Funktionen lassen sich hier leicht einordnen. Dies gilt insbesondere für die fast zum Schlagwort erstarrte »Resozialisierung« des Straftäters. Um diese Vokabel hat sich ein lebhafter Streit entwickelt. Wer sich modern dünkt, bestreitet die Richtigkeit des Wortes: Resozialisierung. Die meisten Kriminellen seien infolge der Ungunst ihres Lebensweges nie »sozialisiert« worden und deshalb müsse man anstelle von »Resozialisierung« besser von »Sozialisierung« sprechen. Mir scheinen hier Begriffsebenen durcheinander zu geraten. Der Begriff der »Resozialisierung« ahnt, dass die Bestraften erst durch die Strafe aus der Gesellschaft ausgegliedert werden und deshalb ein Prozess in Gang zu setzen ist, um sie wieder einzugliedern, da keine Gesellschaft mit einer großen Zahl Ausgegliederter leben kann, die – wenn ihre Ausgliederung ein für sie hoffnungsloser Dauerzustand wird – folgerichtig auch die Normen der Gesellschaft nicht anerkennen können.

Das Wechselspiel zwischen Ausgrenzung und Wiedereingliederung einerseits sowie der Festigung der Rechtstreue der Bevölkerung andererseits ist sozialpsychologisch ein sehr viel heiklerer Balanceakt als dies allgemein angenommen wird.

Die verfassungsrechtliche Seite des Problems täuscht. Nach dem Verfassungsrecht ist die Sachlage denkbar einfach. Danach kann der Gesetzgeber — fast — jedes menschliche Verhalten unter Strafe stellen und den strafrechtlichen Mechanismus in Gang setzen. Die erstrebte sozialpsychologische Wirkung wird jedoch nur erreicht, wenn die Berechtigung der Strafverfolgung von der Bevölkerung auch akzeptiert wird. Anders formuliert: Die Sorge um die Akzeptanz von Strafbestimmungen schränkt einen weisen Gesetzgeber sehr viel stärker ein als die Verfassung.

Bevor ich mich dem politischen Strafrecht unmittelbar zuwende, sei noch ein Exkurs als Beleg gestattet. Die strafrechtlichen Bestimmungen haben in diesem Jahrhundert auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland — und nicht nur hier — eine Dichte erreicht, wie noch nie zuvor in der Geschichte. Diese Entwicklung ist lange nicht bemerkt worden und, als dies geschah, hat der Gesetzgeber einen erheblichen Teil der »Strafbestimmungen« aus dem Strafrecht herausgenommen und das Recht der »Ordnungswidrigkeiten« geschaffen, um das Schwert des Strafrechts scharf zu halten und nicht durch die Vermischung »kriminellen« Unrechts mit Verstößen, die von jedermann begangen werden, stumpf werden zu lassen, weil, wenn nahezu alle Bürger ausgegrenzt würden, in Wahrheit niemand ausgegrenzt wird. Wir hatten kurzfristig nach dem letzten Weltkrieg einen solchen Zustand erreicht, als nahezu auch alle »ehrbaren« Bürger sich durch den überlebensnotwendigen Schwarzhandel mit gutem Gewissen nach Wirtschaftsstrafbestimmungen strafbar gemacht hatten.

Begriff: Politische Straf­ver­fahren

Nach dieser Vorrede zu den politischen Strafverfahren. Doch hier stocke ich schon. Der Begriff des »politischen Strafverfahrens« ist im offiziellen Sprachgebrauch verpönt und gilt, bezogen auf die BRD, als unzulässiger Kampfbegriff der Linken, während er für historisch zurückliegende Zeit wie auch für andere Staaten ohne Beanstandung allgemein gebräuchlich ist. Der Staat bietet als Ersatz den Begriff der Straftaten »politisch motivierter Täter« an, ohne dass dies Angebot vom Sprachgebrauch akzeptiert worden wäre. Dieser Streit ist jedoch mehr als nur ein Streit um Worte, führt er doch unmittelbar in den Kernbereich jedes politischen Strafrechts. Politisches Strafrecht kann in einer Demokratie nur greifen, wenn es von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wird und wenn es mit seiner Hilfe gelingt, die politischen Täter aus der Gesellschaft auszugliedern. Dieser Versuch aber muss misslingen, wenn der Eindruck entsteht, die Angeklagten würden wegen ihrer politischen Überzeugung und nicht wegen krimineller Straftaten verfolgt, weil dann nicht mehr das allgemein akzeptierte Kriminalstrafrecht Grundlage der Strafverfolgung ist. Die verfolgte politische Überzeugung würde alsdann zum Gegenstand der Diskussion, an der die Geister sich scheiden. Diejenigen, die die politische Überzeugung der Angeklagten teilen, würden die Strafverfolgung als ungerecht empfinden und sich mit den Angeklagten solidarisieren; der Strafprozess würde nur noch bei denen die erstrebte sozialpsychologische Wirkung zeigen, die die politische Überzeugung der Angeklagten ohnehin ablehnen.

Wir kommen damit unmittelbar zu einem Grundmuster jedes politischen Strafprozesses. Die Strafverfolgungsbehörden müssen bestrebt sein, die Angeklagten als »gewöhnliche Kriminelle« erscheinen zu lassen, während diese wiederum bestrebt sind, nicht von ihrer Kriminalität — im Sinne des Strafgesetzbuches — zu sprechen, sondern von ihren politischen Zielen und vorhandene »echte« Kriminalität als Mittel zu erklären, das durch den Zweck geheiligt wird.

Dieser »Kampf um die Seele des zuschauenden Volkes« ist für beide Seiten heikel. Kein Staat verzichtet auf ein eigenes politisches Strafrecht. Setzt er aber dies Straf-recht ein, so bringt der politische Gehalt dieses Rechts ihn sofort in den Verdacht, in Wahrheit die politische Haltung der Angeklagten treffen zu wollen. Diese Gefahr ist umso größer, als das moderne Strafrecht — und gerade das politische Strafrecht — in immer stärkerem Umfang Beweggründe und Ziele des Täters in den gesetzlichen Tatbestand einbezieht und so leicht zu belegen ist, dass die Angeklagten eben dieser Beweggründe und Ziele wegen verfolgt werden.

Die Angeklagten auf der anderen Seite müssen sich regelmäßig auch den Verdacht allgemein als Unrecht empfundener krimineller Straftaten gefallen lassen — vom Diebstahl bis zum Mord. Je geringer das Gewicht der kriminellen Straftat, desto leichter ist es, den überschießenden politischen Teil der Strafverfolgung darzutun und umgekehrt.

Vor diesem Hintergrund werden die publizistischen Auseinandersetzungen verständlich, die politische Strafverfahren begleiten und bis in die Hauptverhandlung hineinwirken. Diese Auseinandersetzung kann nicht in all ihren Facetten aufgezeigt werden, doch Beispiele sind zu benennen. Gemäß dem skizzierten Grundmuster lässt sich die Publizistik in politischen Strafverfahren jedoch an jeder Stelle leicht analysieren.

Auf Seiten der Strafverfolgung entfaltet sich das publizistische Bemühen bereits lange vor der Anklage in der Fahndung. Fahndungsaufrufe und Fahndungsplakate sind allein auf den kriminellen Gehalt der Straftaten abgestellt, sie kennzeichnen die Gesuchten als Gewaltverbrecher – »Vorsicht Schusswaffen! «—, sie versuchen, die Bevölkerung in die Fahndungsbemühungen einzubeziehen und gegen die Angeklagten zu mobilisieren. Die gezeigten Fahndungsbilder sind möglichst abschreckend, obwohl sie dem Fahndungserfolg zuwiderlaufen; dieser würde gerade durch lebensnahe Bilder gefördert. In der Hauptversammlung versucht die Staatsanwaltschaft — meist erfolgreich — politische Erklärungen der Angeklagten zu verhindern. Die Angeklagten wiederum zeigen das Bestreben, möglichst umfangreiche politische Erklärungen abzugeben und zu den Vorwürfen mit kriminellem Gehalt zu schweigen. Politische Täter sind — gerade wenn sie sich in Haft befinden — darauf angewiesen, Vertrauensanwälte zu finden, die auch außerhalb der beengten Möglichkeiten der Hauptverhandlung ihre Ideen publizistisch darstellen. Nicht zufällig gehört es zum Repertoire politischer Strafverfolgung, diese Vertrauensanwälte zu diskreditieren. Aus diesem Grundmuster lässt sich unschwer der Satz ableiten, dass die politischen Interessen einer Strafverfolgung umso schwieriger zu wahren sind, je größer die all-gemeine Zustimmung zu den politischen Zielen der Angeklagten sowie je geringer der kriminelle Gehalt ist und umgekehrt.

Als Beispiel seien die Strafprozesse gegen Blockierer in Mutlangen wegen Nötigung genannt. Die Strafverfolgungsbehörden haben sich geweigert, gegen die Teilnehmer der »Prominentenblockade« vorzugehen. Auch die Selbstanzeige des Fritz-Bauer Preisträgers Prof. Erich Küchenhoff in Münster blieb ohne Erfolg. Hätte die Staatsanwaltschaft hier den Verdacht einer Straftat gehabt und Anklage erhoben, wäre die Solidarisierung mit den Angeklagten allgemein gewesen. Aber auch so ist die Staatsanwaltschaft kaum auf Zustimmung gestoßen. Wie anders soll man es sonst werten, dass die Verteidigungsrede des Angeklagten Prof. Walter Jens in der meinungsbildenden Presse allgemein im Wortlaut abgedruckt worden ist.

Als weiteres Beispiel sind Verfahren gegen Mitglieder der Umweltschutzorganisationen Greenpeace und Robin Wood zu nennen, die sich bis weit in die Kreise der Justiz hinein unverholener Sympathie erfreuen.

Auf der anderen Seite ist es den Strafverfolgungsbehörden gelungen, allgemeinen Abscheu vor den Morden der Baader-Meinhof-Gruppe zu erwecken.

Die Hauptverhandlung in einer Strafsache ist in einem demokratischen Rechtsstaat zu einer politischen Auseinandersetzung denkbar ungeeignet. In ihr ist von den Richtern darüber zu entscheiden, ob ein bestimmter Straftatbestand mit rechtsstaatlich zulässigen Mitteln erwiesen ist oder nicht. Je wirksamer die Hauptverhandlung auf die Erörterung der Vorwürfe mit kriminellem Gehalt beschränkt wird, desto weniger besagt ihr Ergebnis über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der von den Angeklagten vertretenen politischen. Ideen aus — wenn für die Beantwortung dieser Frage überhaupt objektive Kriterien auffindbar sind. Trotzdem wird wegen der publizistischen Begleitung dieser Prozesse ihr Ausgang allzu schnell als gerichtliche »objektive« Bestätigung oder Verwerfung der von den Angeklagten vertretenen politischen Ideen gewertet. Dies müssen alle Verfahrensbeteiligten als fatal empfinden, auch wenn sie an dieser Folge mitschuldig sind. Insbesondere führt diese Folge die Strafverfolgungsbehörden in die Versuchung, die Verurteilung der Angeklagten mit allen — und auch zweifelhaften, ja unerlaubten — Mitteln sicherzustellen. Natürlich wehren sich die Angeklagten gegen derartige Versuche und die Diskussionen über die Methoden der Strafverfolgung kann dem Verfahren die erstrebte politische Wirkung nehmen. Dieser Konflikt ist für die Strafverfolgungsbehörden unlösbar.

Als besonders gefährlich erweist sich dieser Konflikt, wie zum Beispiel in dem Verfahren gegen die Baader-Meinhof-Gruppe, wenn sich sogar die Staatsführung mit dem Strafverfolgungsinteresse identifiziert. Die Folge: wenn damals die Gefahr bestand, dass strafprozessuale Vorschriften der Verteidigung Aufschub geben könnten, wurden sie im Schnellverfahren vom Deutschen Bundestag zum Nachteil der Verteidigung geändert. Gewiss hat dies die Prozessführung erleichtert, aber gleichzeitig dem Ergebnis viel von seiner Glaubwürdigkeit genommen; ob zu recht oder unrecht sei hier dahingestellt.

Die Vorver­ur­tei­lung

Jeder interessierte Bürger macht sich aus der Berichterstattung ein Bild vom wahrscheinlichen Prozessausgang und setzt ihn auch zu seinen eigenen Zielvorstellungen in Beziehung. Es liegt auf der Hand, dass diese Unterrichtung durch die Medien nur recht unvollkommen sein kann und gerade in politischen Prozessen wegen der Zugriffsmöglichkeiten des Staates auf die Berichterstattung gelegentlich auch gefärbt ist. Man vergleiche hierzu nur die Berichterstattung zum Verfahren gegen die Baader-Meinhof-Gruppe mit der gegen die Graf-Lambsdorff-Gruppe. Die Unterschiede spiegeln sich schon darin wieder, dass die Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe durchgängig als »Bande« bezeichnet worden sind, während die Mitglieder der Graf-Lambsdorff-Gruppe nicht einmal als »Gruppe« tituliert, sondern mit Namen genannt werden. Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: ich befürworte keinesfalls die Bezeichnung des Grafen Lambsdorff und seiner Mitangeklagten als »Bande«, auch wenn sie — unabhängig von einer strafrechtlich fassbaren Schuld — dem Ansehen unseres Staates mehr Schaden zugefügt haben als es die Baader-Meinhof-Gruppe je vermocht hätte. Nur: Ich hätte mir bei der Baader-Meinhof-Gruppe dieselbe rechtsstaatlich gebotene Zurückhaltung gewünscht.

Zur »Vorverurteilung« trägt nicht unwesentlich der äußere Rahmen des Prozesses bei. Überschreiten die Sicherungsmaßnahmen das gewöhnliche Maß, ist der Außen-stehende zunächst geneigt, auf die besondere Gefährlichkeit der Angeklagten zu schließen und umgekehrt. Hiervon profitieren etwa die Wirtschaftskriminellen, bei denen Gewalttätigkeit kaum zu befürchten ist und besondere Sicherungsmaßnahmen deshalb in der Regel nicht für erforderlich gehalten werden. Werden die Sicherungsmaßnahmen dagegen überzogen, schlagen sie in ihrer psychologischen Wirkung in ihr Gegenteil um. Das haben die Regisseure der Stammheimer Prozesse in ihrer Maßlosigkeit verkannt. Es will mir unmöglich erscheinen, glaubhaft zu machen, dass die »Justizfestung Stammheim« ein Ort unvoreingenommenen Bemühens um Gerechtigkeit gewesen sei. Kommt — wie in Stammheim — hinzu dass die Sicherheitsvorschriften auch auf angesehene Verteidiger, wie Otto Schily und Heinrich Hannover, erstreckt werden, so muss dies auch bei Gutwilligen mindestens zu Unverständnis führen. Ich habe in politischen Prozessen in der Türkei mehrere Hundert kahlgeschorene Angeklagte eingepfercht nebeneinander in einem fabrikhallenähnlichen Gebäude von schussbereiten Soldaten bewacht gesehen. Mitleid und Entsetzen ist die unausbleibliche Folge, was immer die Angeklagten auch getan haben mögen.

Die Richter in politischen Straf­ver­fahren

Ich habe bisher nur von den Strafverfolgungsbehörden einerseits und den Angeklagten und ihren Verteidigern andererseits gesprochen, aber die Frage, wie die Richter sich verhalten oder doch verhalten sollten, ausgespart.

Wenn ich mich ihr jetzt widmen will, so muss ich ein Wort zu ihrer Auswahl in politischen Strafverfahren vorausschicken. Unsere Prozessordnung ist weiser, als man ihr gemeinhin zutraut. Sie geht unausgesprochen davon aus, dass das Urteil nicht zuletzt auch von der Person des Richters abhängt. In dieser Deutlichkeit wird dies zwar nirgends gesagt; aber nur so ist zu erklären, dass das Gesetz ein umfangreiches Regelwerk enthält, das sicherzustellen versucht, dass die Auswahl der Richter nicht der Willkür der Gerichtspräsidenten anheimgegeben ist, sondern nach abstrakten 1Wlerkmalen feststeht, noch bevor die Anklage bei dem Gericht eingegangen ist. Jede Manipulation, ja jeder Verdacht einer Manipulation muss die Glaubwürdigkeit des Verfahrensergebnisses in Zweifel ziehen. Und doch wird an dieser Stelle immer wieder gesündigt. Würde ich an dieser Stelle das Sündenregister der Justiz ausbreiten, so wäre es länger als mancher Strafregisterauszug. Ich muss mich deshalb beschränken. Als die Nazis mit der Prozessführung im Reichstagsbrandprozess vor dem Reichsgericht unzufrieden waren, nahmen sie ihm die Zuständigkeit für politische Prozesse und übertrugen sie dem deshalb neu gegründeten Volksgerichtshof mit den bekannten Folgen. Den Landgerichten wurden auch in minder bedeutsamen politischen Prozessen die Zuständigkeit entzogen und Sondergerichten übertragen. Ich erwähne dies nicht deshalb, weil ich eine Parallele zur Gegenwart ziehen will, sondern weil ich darauf hinweisen will, dass diese frische historische Erinnerung den Gesetzgeber der BRD hätte davon abhalten müssen, bei dem Bundesgerichtshof und den Oberlandesgerichten besondere Staatsschutzsenate — überdies ohne ehrenamtliche Richter — zu schaffen, die auch bei bestem Willen mit dieser historischen Hypothek belastet in die Verfahren gehen, die es in jedem Verfahren erneut abzutragen gilt.

Vorsitzender des ersten Stammheimer Verfahrens vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts war in der Person von Prinzing ein Mann, der eben noch Richter am Landgericht gewesen war und aus Anlass des Baader-Meinhof-Verfahrens an das Oberlandesgericht befördert worden war. Schon vor diesem Hintergrund war es für ihn schwierig, glaubwürdig zu prozedieren. Die Tatsache, dass Prinzing nach seinem unrühmlichen Ausscheiden aus dem Baader-Meinhof-Verfahren abermals, diesmal zum Gerichtspräsidenten in Tübingen, befördert worden ist, zeugt auch nicht gerade von justizpolitischem Fingerspitzengefühl.

Indessen will ich im übrigen diesen Hintergrund, den man auch an anderer Stelle aufhellen könnte, im Dunkeln lassen und nach dem rechten Verhalten eines idealen Richters fragen. Ich könnte mir diese Frage unangreifbar leicht machen, würde ich sagen, er habe einzig nach Recht und Gesetz zu entscheiden und damit die eben eröffnete Diskussion wieder beenden.

Natürlich soll der Richter in politischen Strafverfahren, wie in jedem anderen Verfahren auch, nur nach Recht und Gesetz entscheiden. Vielleicht ist das schon ein großer Satz, wenn man sich im Lande und gar in der Rechtsgeschichte umschaut. Und doch beinhaltet er nicht alles. Gesetze können und sollten für das Verfahren nur Eckdaten setzen. Ausgefüllt wird das Verfahren durch nicht normierbares Verhalten der Richter, Staatsanwälte, Verteidiger und Angeklagten. Jedes Verfahren hat sein spezifisches Klima, das zum erheblichen Teil durch die Persönlichkeit des die Verhandlung leitenden Richters geprägt wird. Es gibt nur vergleichsweise wenige Verfahren, in denen es trotz guten Willens und entsprechendem Können, des Richters den anderen Verfahrensbeteiligten gelingt, das Verhandlungsklima zu zerstören. Dem Staatsanwalt kann dies eigentlich gegen den entschlossenen Widerstand des Richters nie gelingen, da er sich bei Destruktion leicht selbst isoliert; Angeklagte und Verteidiger verfügen in dieser Richtung über mehr Möglichkeiten. Doch dies sind Gemeinsamkeiten aller Strafverfahren.

Die politische Dimension des Verfahrens

In politischen Strafprozessen muss jeder Richter sich der politischen Dimension des Verfahrens stellen. Weicht er dieser Aufgabe aus, hat er bereits verloren. Die entscheidende Frage ist – und hier kehre ich zum Ausgangspunkt zurück -‚ ob es ihm gelingt, deutlich zu machen, dass die Entscheidung des Gerichts nicht von ihren politischen Folgen beeinflusst sein werden und dass das Gericht sich bemühen wird, dem Denken des Angeklagten gerecht zu werden. Diese Forderung ist schwerer zu erfüllen als es den Anschein hat. Wie selbstverständlich geht die Öffentlichkeit davon aus, dass die Gerichte als Teil der staatlichen Gewalten – und von der Öffentlichkeit bezahlt – auch deren Interesse wahrzunehmen haben. Im Grundsatz ist dieser Gedanke auch richtig; hier aber liegt die Schwierigkeit. Die Wahrnehmung des öffentlichen Interesses durch Richter besteht gerade auch darin, dem Einzelinteresse einen gesicherten Raum gegenüber dem öffentlichen Interesse zu sichern.

Es gibt zwei Punkte, in denen die Unparteilichkeit des Strafrichters allgemein und besonders in politischen Strafverfahren auf dem Prüfstand steht: Er hat den Angeklagten und seinen Verteidiger vor jeder Demütigung wirksam und notfalls auch mit nach außen erkennbarem Nachdruck zu schützen. Jedes Strafverfahren ist ohnehin eine starke seelische Belastung des Angeklagten. Sie kann nur geringfügig gemildert, leicht aber ins Unerträgliche gesteigert werden. Hierzu gehören die Äußerlichkeiten des Verfahrens ebenso wie höhnische und ironische Bemerkungen. Schon in diesem Punkt haben etwa die Richter des Baader-Meinhof-Verfahrens versagt. Der Prozess war für sie schon verloren, als sie sich auf eine Verhandlung in der »Justizfestung Stammheim« einließen, Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass der Prozess einen völlig anderen Verlauf genommen hätte, wenn die Richter den Anträgen der Verteidigung gefolgt wären und die Verhandlung in einem Gerichtssaal durchgeführt hätten, dem auch gegen jeden anderen Angeklagten verhandelt worden wäre. Natürlich hätten sie gegen öffentliche Sicherheitsinteressen verstoßen, aber gerade durch die Betonung ihrer Unabhängigkeit gegenüber kurzatmigen öffentlichen Interessen ihre öffentliche Aufgabe viel wirksamer wahrgenommen. Ich muss offen lassen, ob die Angeklagten auch dann die Richter angepöbelt hätten, wie dies später geschehen ist. Jedenfalls hätten die Angeklagten sich dann viel eindeutiger ins Unrecht gesetzt.

Der zweite Punkt ist einschneidender. Unser Strafprozessrecht gibt den Angeklagten in umfangreicher Weise das Recht, Erklärungen abzugeben und durch Beweisanträge die Aufklärung des Sachverhalts zu erzwingen. Die Grenze ist – kurz gefasst -‚ dass Erklärungen und Anträge »zur Sache«, das heißt zum Anklagevorwurf gehören müssen. Es liegt auf der Hand, dass gerade im politischen Strafprozess Angeklagte versuchen, den Gerichtssaal zum Forum ihrer politischen Ideen zu machen, das Staatsinteresse es aber nicht zulassen will, dass das Strafverfahren zur Plattform unangenehmer Wahrheiten oder auch Unwahrheiten wird. Ich kann Richter verstehen, die hier gelegentlich die Geduld verlieren. Aber es geht kein Weg an dem Grundsatz vorbei: Auch das Unerhörte verdient Gehör!

Die Freiheit des Wortes ist der Kern des Strafprozesses – auch wenn sie in der Strafprozessordnung so nicht festgeschrieben ist. Sie ist letztlich die einzige Waffe des Angeklagten und seines Verteidigers gegenüber der Macht des Staates. Um Irrtümern vorzubeugen: Ich rede Pöbeleien nicht das Wort, und es gehört zu den Aufgaben des die Verhandlung leitenden Richters, sie zu unterbinden. Wird aber die Form des Anstandes gewahrt, muss jeder Verfahrensbeteiligte sagen können, was er für notwendig hält. Dies ist der Punkt, an dem sich der Strafprozess in einem freiheitlichen Rechtsstaat von dem in einer autoritären Staatsform unterscheidet.

Kämpft der Richter mit aller Kraft für die Freiheit des Wortes, so werden alle uolontereoAbmiob1co, den Strafprozess zu politischer Verfolgung zu missbrauchen, zuschanden. Jede Staatsführung ist in der Versuchung, den Strafprozess zu politischen Zwecken zu missbrauchen. Wir sollten dies als der Politik immanent begreifen, nicht beklagen, sondern auf Gegenmittel sinnen. Mir scheint, dass keine Staatsführung der Versuchung nachgeben wird, wenn sie gewiss sein muss, der politische Gegner werde in der Hauptverhandlung Gelegenheit haben, den Missbrauch darzustellen. Die Staatsführung sollte die richterliche Unabhängigkeit ebenso fürchten lernen, wie die Angeklagten.

Zugegeben: dies war ein zu langes Vorwort für Ausführungen, mit denen die Pläne der Bundesregierung für neue Sicherheitsgesetze einer Kritik unterzogen werden sollen. Es galt indes darzulegen: die dem Gesetzgeber vom Grundgesetz eingeräumte Freiheit, die Strafverfolgung nach seinem Ermessen zu regeln, mag groß sein. Jede Änderung der die Strafverfolgung regelnden Gesetze greift aber in ein auf Grund langer bis in das Mittelalter (Inquisitionsprozesse) zurückreichender, vielfach schmerzlicher Erfahrung mühsam ausbalanciertes Gebilde von Kräften und Gegenkräften ein und kann die Balance zerstören. Stärkt man nur die Strafverfolgungsbehörden, wie es die Bundesregierung beabsichtigt, vergisst aber die Verteidigung, ist es mit der viel beschworenen, ohnehin nie durchgesetzten »Waffengleichheit« zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung dahin. Erfolgt die Stärkung der Strafverfolgungsbehörden gar in geheimgehaltenen Bereichen, so muss in den auf Offenheit angelegten Strafprozess Misstrauen einziehen – und zwar auch in den Fällen, in denen die Computer in Wirklichkeit leer sind.

Ich habe absichtlich undeutlich einmal den Begriff »Strafverfolgungsbehörden« als Oberbegriff für Staatsanwaltschaft und Polizei und dann den Begriff »Staatsanwaltschaft« gebraucht. In Wirklichkeit verbirgt sich hinter dieser Unklarheit ein der Öffentlichkeit bislang verborgener Machtkampf zwischen der Staatsanwaltschaft und der Polizei – insbesondere der Behörde des Generalbundesanwalts und dem Bundeskriminalamt – um den Zugang zu geheimen Informationen. Man höre hierzu einmal, was Beamte des Generalbundesanwalts über ihre oft vergeblichen Versuche berichten, vom Bundeskriminalamt geheim gespeicherte Informationen zu erhalten. Ich kann an dieser Stelle das Problem der Machtverschiebung von der der Justiz zugeordneten Staatsanwaltschaft zur Polizei nur benennen; eine Einzeldarstellung muss ich mir versagen.

Ich will mit den neuen Sicherheitsgesetzen bzw. den entsprechenden Entwürfen fair umgehen. Jede Medaille hat zwei Seiten und man sollte nicht verleugnen, dass sie es ermöglichen könnten, mehr Straftäter zur Strecke zu bringen, wie man in diesem Zusammenhang wohl formulieren darf. Man muss jedoch fragen, welche Gruppe von Straftätern in die neuen Schleppnetze geraten wird. Ein echter Bedarf, mehr Kleinkriminelle einzufangen, besteht kaum. Schon heute quillen die Gefängnisse von Kleinkriminellen über. Wir haben in Europa außerhalb des Ostblocks die höchsten Gefangenenzahlen auf die Zahl der Bevölkerung umgerechnet. Echte Schwachstellen weist die Strafverfolgung immer noch im Bereich der Wirtschaftskriminalität und der Umweltkriminalität auf. Doch hier, wo vermehrter staatlicher Einsatz gefordert ist, bringen uns die Sicherheitsgesetze keinen Schritt voran. Dies kann man in Zusammenhang mit der Tatsache sehen, dass Niedersachsens Innenminister Möcklinghof (CDU) erst jüngst die Polizei bei der Verfolgung von Umweltkriminalität zurückgepfiffen hat und dass die Steuerstrafverfahren in Folge der Parteispendenaffäre in CDU-regierten Bundesländern merkwürdig oft versickern. Es bleibt das Feld der politischen Straftäter. Hier wird beabsichtigt, aber nicht offen ausgesprochen der Schwerpunkt der neuen Sicherheitsgesetze liegen, wie allein das sog. Zusammenarbeitsgesetz (ZAG) zwischen Polizei und Verfassungsschutz belegt.

Und damit wären wir wieder bei unserem Thema.

Denkt man über die Folgen der Machtverschiebung zugunsten der Strafverfolgungsbehörden im Strafprozess nach, so könnten sie darin bestehen, dass die Strafrichter versuchen, das Gleichgewicht dadurch anzustreben, dass sie sich entgegen den Traditionen der deutschen Justiz im Zweifelsfall auf die Seite der Verteidigung schlagen. Erste Ansatzpunkte sind vornehmlich in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs schon zu erkennen. Diese notwendige Entwicklung jedoch dürfte kaum das Ziel der Sicherheitsgesetze sein. Nehmen die Richter dagegen die Verschiebung des Kräfteverhältnisses nicht wahr, müssen die Urteile der Gerichte gerade in kritischen Fällen in der Bevölkerung notwendigerweise an Akzeptanz verlieren. Einer solchen Entwicklung aber müssen wir Richter uns in Wahrnehmung unserer öffentlichen Verantwortung mit aller Kraft entgegenstemmen.

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