Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 183: Die öffentliche Familie

Kinderarmut

Krisensymptom der Familie oder Armutszeugnis für die Gesellschaft?,

aus: vorgänge Nr. 183, Heft 3/2008, S. 69-77

Auf dem Höhepunkt des sich offenbar gerade seinem Ende zuneigenden Konjunkturaufschwungs, im März 2007, lebten nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit fast 1,929 Mio. Kinder unter 15 Jahren (von ca. 11,44 Mio. dieser Altersgruppe insgesamt) in SGB-II Bedarfsgemeinschaften, landläufig „Hartz-IV-Haushalte“ genannt. Rechnet man die übrigen Betroffenen (Kinder in Sozialhilfehaushalten, in Flüchtlingsfamilien, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ein Drittel weniger als die Sozialhilfe erhalten, und von sog. Illegalen, die gar keine Transferleistungen beantragen können) hinzu und berücksichtigt außerdem die sog. Dunkelziffer (d.h. die Zahl jener eigentlich Anspruchsberechtigter, die aus Unwissenheit, Scham oder anderen Gründen keinen Antrag auf Sozialhilfe bzw. Arbeitslosengeld II stellen), lebten etwa 2,8 Millionen Kinder, d.h. mindestens jedes fünfte Kind dieses Alters, auf oder unter dem Sozialhilfeniveau.[1]

Obwohl die Kinderarmut längst zu einem Massenphänomen geworden ist, taucht der Armutsbegriff selbst im Stichwortverzeichnis eines Standardwerkes wie dem von Jutta Ecarius herausgegebenen „Handbuch Familie“ nicht auf.[2] Dabei basiert Kinderarmut in aller Regel auf Frauen- bzw. Familienarmut. Betroffen sind vor allem Alleinerziehende, meist Mütter, und kinderreiche Familien, deren Haushaltseinkommen zu gering ist, um den Unterhalt von Kindern zu bestreiten, was zu sozialer Benachteiligung in mehreren Bereichen (z.B. Wohnen, Bildung und Gesundheit) führt. Familien fungieren nämlich als „emotionaler Puffer“ zwischen dem bestehenden Wirtschaftssystem, das die sozioökonomische Deprivation hervorruft, und den Kindern, die auf Grund solcher Restriktionen in ihrer kognitiven Entwicklung, schulischen Leistungsfähigkeit, psychischen Stabilität und physischen Konstitution gefährdet sind.[3]

Hier soll nach den Ursachen eines Prozesses gefragt werden, den Richard Hauser bereits in den 1990er-Jahren als „Infantilisierung der Armut“ bezeichnet hat.[4] Neben den Tendenzen zur Aushöhlung des „Normalarbeitsverhältnisses“ und zur Auflösung der „Normalfamilie“ ist der Um- bzw. Abbau des Wohlfahrtsstaates, wie man ihn bis Mitte der 1970er-Jahre kannte, hauptverantwortlich für die gegenwärtige Kinderarmut.

I. Aushöhlung des Norma­l­a­r­beits­ver­hält­nisses

Mehr als in anderen Wohlfahrtsstaaten beruht das soziale Sicherungssystem in Deutschland auf einer von der Ausbildung bis zur Rente sozialversicherungspflichtig betriebenen, überwiegend von (Ehe-)Männern verrichteten Lohnarbeit. Wenn aber immer weniger Arbeitnehmer/innen immer mehr Güter herstellen und immer mehr Dienstleistungen erbringen, ohne noch eine „feste Stelle“ zu haben, die sie – samt ihren Familien – ernährt, verliert der erwerbsarbeitszentrierte Sozial(versicherungs)staat sein Fundament. Denn ihm lag das Normalarbeitsverhältnis zu Grunde, d.h. eine unbefristete, sozial- bzw. arbeitsrechtlich und kollektivvertraglich geschützte Vollzeitbeschäftigung, die sich in der Krise befindet. „Ausgelöst durch säkulare Umstrukturierungsprozesse im Bereich gesellschaftlicher Produktion, deutet sich eine Situation an, in der eine auf Erwerbsarbeit im Normalarbeitsverhältnis basierende gesellschaftliche Reproduktion als Regelfall nicht mehr vorstellbar ist.“[5] Ulrich Mückenberger hob zugleich hervor, dass der Niedergang des „Normalarbeitsverhältnisses“ nicht etwa dem technischen Fortschritt geschuldet ist, sondern auf wirtschafts- und sozialpolitischen Grundsatzentscheidungen beruht.

Im ökonomischen Modernisierungs-, Rationalisierungs- und Automatisierungsprozess, den das global agierende Kapital unter Stichworten wie „Deregulierung“ und „Flexibilisierung“ vorantreibt, wird das Normalarbeitsverhältnis durch eine steigende Zahl atypischer, prekärer, befristeter, Leih- und (Zwangs-)Teilzeitarbeitsverhältnisse, die den so Beschäftigten weder ein ausreichendes Einkommen noch den erforderlichen arbeits- und sozialrechtlichen Schutz bieten, in seiner Bedeutung stark relativiert.

Die gezielte Umwandlung regulärer Arbeits- in sozialversicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse (Scheinselbstständigkeit, 630-DM/325-bzw. 400-Euro-Jobs) höhlte das Normalarbeitsverhältnis aus. Da ein Großteil der Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und der Industrie, aber mittelfristig auch im noch vor kurzem als „Jobmaschine“ geltenden Dienstleistungsbereich wegrationalisiert wird, kann ein System der sozialen Sicherung, dessen Finanzierungsmechanismus auf traditionellen Formen der Erwerbsarbeit basiert, nicht mehr optimal funktionieren. Es wird zwar keineswegs obsolet, wie seine marktradikalen Gegner per Horrorszenarien einer „vergreisenden“ und zerfallenden Gesellschaft suggerieren,[6] muss jedoch durch den Einbau komplementärer Regelungsmechanismen ergänzt und auf steigende Belastungen vorbereitet werden.

Lebensläufe jüngerer Menschen ähneln immer häufiger Flickenteppichen, die mit den kontinuierlichen Erwerbsbiografien früherer Generationen kaum noch Gemeinsamkeiten aufweisen. Hans J. Pongratz und G. Günter Voß konstatieren, dass Arbeitnehmer/innen unter den Bedingungen der New Economy und anderer „entgrenzter“ Formen der Beschäftigung zu modernen „Arbeitskraftunternehmer(inne)n“ avancieren,[7] verbunden nicht nur mit dem Zwang, sich selbst erfolgreich zu vermarkten, sondern auch den entsprechenden Existenzrisiken. Die soziale Sicherheit wird womöglich zu einem seltenen Gut, das die meisten Personen entbehren müssen, weil man ihnen zumutet, „mehr Eigenverantwortung“ zu übernehmen, also für sich selbst, ihre Familie und Kinder (privat) vorzusorgen.

II. Auflösung der Norma­l­fa­milie

Nicht nur der „Normalarbeitnehmer“, welcher nach 45 Berufsjahren als sog. Standardrentner ohne große Verringerung seines bisherigen Lebensstandards den verdienten Ruhestand genießt, dürfte schon bald eher zur Ausnahme von der Regel gehören, sondern auch jene Normalfamilie, die bisher neben ihm und seiner (nicht berufstätigen, sondern ganz auf den gemeinsamen Haushalt und die Familienarbeit konzentrierten) Ehefrau ein oder zwei Kinder umfasste.

Birgit Pfau-Effinger weist in einer (die soziohistorische Entwicklung dreier Länder miteinander) vergleichenden Studie nach, dass die männliche Versorgerehe auf Grund des rasch fortschreitenden Industrialisierungsprozesses zum dominanten Familienmodell in Deutschland avancierte. „Es wurde aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den fünfziger Jahren von einer Mehrheit der Bevölkerung praktiziert, als auf breiter Basis ein gewisser Wohlstand erreicht worden war, der die Voraussetzung dafür bot, dass die Ehefrauen von der Erwerbstätigkeit freigestellt werden konnten.“[8] Während des sog. Wirtschaftswunders erfreute sich das (klein)bürgerliche Familienideal in der Bundesrepublik noch allergrößter Beliebtheit. „Das moderne Ehe- und Familienmuster, die moderne Kleinfamilie (auch ‚privatisierte Kernfamilie‘ genannt) – d.h. die selbständige Haushaltsgemeinschaft eines verheirateten Paares mit seinen unmündigen Kindern – war eine kulturelle Selbstverständlichkeit und wurde von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung auch unhinterfragt gelebt.“[9] Dabei gingen die Kernfamilie und der Sozialstaat eine geradezu symbiotische Wechselbeziehung ein: Ohne ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit ist nämlich überhaupt kein geordnetes Familienleben möglich; der hiesige Wohlfahrtsstaat fußt seinerseits auf familialen Reproduktionsformen und auf patriarchalischen Geschlechterbeziehungen.

Durch die neoliberale Globalisierung büßt auch die „Normalfamilie“, also die durch Regelungen wie das Ehegattensplitting im Einkommensteuerrecht staatlicherseits subventionierte Hausfrauenehe mit ein, zwei oder drei Kindern, an gesellschaftlicher Bedeutung ein. Der britische Soziologe Anthony Giddens bezeichnet Ehe und Familie als „ausgehöhlte Institutionen“, weil sich ihr Wesen durch die Globalisierung verändert habe: „In der traditionellen Familie war das Ehepaar nur ein Teil, und oft nicht einmal der wichtigste, des Familienverbundes. Heute steht das Liebespaar, ob verheiratet oder nicht, im Mittelpunkt dessen, was man Familie nennt.“[10] Auch die Einstellung den Kindern und ihrem Schutz gegenüber habe sich im Lauf der letzten Jahrzehnte radikal gewandelt: „Zum einen schätzen wir Kinder enorm hoch, weil sie viel seltener geworden sind, zum anderen, weil die Entscheidung für ein Kind inzwischen eine ganz andere Bedeutung hat als früher. Für die traditionelle Familie waren Kinder ein ökonomischer Gewinn. Heutzutage bedeutet ein Kind (…) eine erhebliche finanzielle Belastung für die Eltern.“[11]

In einer Konkurrenzgesellschaft, die vom neoliberalen Leistungsdenken bestimmt ist,[12] sind Kinder das schwächste Glied der Kette. Familien entsprechen häufig gerade nicht dem neoliberalen Wunschbild autonom handelnder Wirtschaftssubjekte, die sich am Markt ohne Schwierigkeiten behaupten können, „Privatinitiative“ entfalten und „eigenverantwortlich“ handeln, sondern sind teilweise auf staatliche Unterstützung angewiesen, um ihren Kindern ein gedeihliches Aufwachsen zu ermöglichen. Der postmoderne „Turbokapitalismus“ (Edward N. Luttwak) wird vielmehr, wenn man so will, zum Totengräber der Traditionsfamilie. Gefragt ist der „flexible Mensch“ (R. Sennett), welcher durch Kinder an einer Berufstätigkeit, wie man sie ihm heute anbietet und abverlangt, jedoch eher gehindert wird.[13] Einerseits fordert mancher Personalchef, dass hoch qualifizierte junge Menschen beiderlei Geschlechts so mobil sein müssen, dass sie bereit sind, heute in Kiel und morgen in Konstanz (wenn nicht gar nächste Woche in London, Tokio oder New York) zu arbeiten; andererseits sollen sie, wenn es nach einer im demografischen Wandel um ihre Reproduktion fürchtenden Gesellschaft geht, sesshaft genug sein, um eine Familie zu gründen und Kinder zu erziehen.

Die fortschreitende Auflösung der Normalfamilie führt die einschlägige Literatur überwiegend auf Individualisierungsschübe zurück, die auch eine „Pluralisierung der Lebensstile“ nach sich zögen. Modernisierung bzw. Individualisierung der Gesellschaft bedeutet, dass sich Klassen und Schichten „entgrenzen“, soziokulturelle Milieus und Institutionen kollektiver Normengebung an politischer Durchschlagskraft bzw. Geltungsmacht verlieren sowie tradierte Sicherungssysteme und anerkannte Reproduktionsmuster brüchig werden. Pluralisierung der Lebensstile wiederum „heißt: Zunahme von gruppen-, milieu- und situationsspezifischen Ordnungsmustern zur Organisation von Lebenslage, Ressourcen und Lebensplanung.“[14] Studien, die individuelle Lebensverläufe untersuchen und deren Heterogenität analysieren, gelangen zu dem folgendem Ergebnis: „Die Vielfalt bzw. die Heterogenität der familalen bzw. partnerschaftlichen Lebensverläufe hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen.“[15]

Durch die Zunahme atypischer bzw. prekärer Beschäftigungsverhältnisse, von (Zwangs-)Teilzeit, organisierter Zeit- bzw. Leih-, Termin-, Werkvertrags- und Telearbeit, Scheinselbstständigkeit sowie „perforierter“, d.h. Mehrfach-, Langzeit- oder Dauererwerbslosigkeit einerseits und von (städtischen) Single-Haushalten, „unvollständigen“, Einelternteil-, Stief- bzw. „Patchwork-Familien“ sowie hetero- und homosexuellen Lebensgemeinschaften andererseits wird das auf überkommenen Normalitätsstandards basierende Sicherungsmodell in Frage gestellt: „Der fortschreitende Verlust der empirischen Allgemeingültigkeit bisher bewährter Annahmen führt zur Obsoleszenz der immer noch an diesen normativen Fundamenten und Normalitätsunterstellungen orientierten sozialstaatlichen Sicherungsarrangements.“[16]

Zwar ist die Erosion der Normalfamilie nicht zuletzt auf die (gesellschaftliche, berufliche und sexuelle) Emanzipation der Frauen zurückzuführen, welche deren Möglichkeiten fördert, sich für die eine oder andere Lebens- und Liebesform zu entscheiden. Damit entfallen aber der Rückhalt und soziale Schutz durch die traditionellen Familienbande. Frauen und ihre Kinder gehören zu den Hauptleidtragenden von Scheidungen bzw. Trennungen, die zahlenmäßig zunehmen. Hans-Jürgen Andreß und Miriam Güllner zeigen, „dass sich die wesentlichen wirtschaftlichen Veränderungen bereits im Zusammenhang mit der Trennung einer Ehe ergeben und sich nicht erst als Folge der Scheidung erweisen. (…) Mit der Trennung steigt die Armutsquote im Vergleich zur Ausgangssituation auf mehr als das doppelte an. Dabei sind es vor allem die Frauen und die Kinder, die ein erhöhtes Armutsrisiko aufweisen.“[17]

Da der Modernisierungs-bzw. Individualisierungsprozess ambivalent ist, also politische Schatten-wie Sonnenseiten hat, sind auch seine Folgen für das System der sozialen Sicherung differenziert zu betrachten. Positiv ist festzuhalten, dass sich die Stellung der Frauen, bedingt durch ihre wachsende Bildungs- und Erwerbsbeteiligung, tendenziell verbessert hat: „Ihre Abhängigkeit von den Männern sinkt, die ‚Versorgungsehe‘ verliert an Bedeutung. Sie können eher auf die Heirat verzichten – oder sie können sich leichter scheiden lassen. Vor allem aber wird für Frauen eine eigene ‚Berufsbiographie‘ immer mehr zu einem normalen Element der Lebensperspektive. Die Beschränkung auf ‚Küche und Kinder‘ erscheint dann geradezu als Relikt.“[18]

Das von Günter Burkart gezeichnete Bild erscheint vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt allerdings zu rosig. Denn im Berufsleben wurde die Frauenemanzipation zum Teil wieder rückgängig gemacht, wodurch sich negative Konsequenzen sowohl für das System der sozialen Sicherung wie für die weiblichen Betroffenen selbst ergaben. Modernisierungs- und Individualisierungsschübe trafen vor allem die früher überwiegend erwerbstätigen, nach der „Wende“ arbeitslos gewordenen und „an den Herd“ zurückgeworfenen Frauen im sog. Beitrittsgebiet hart: „In der (Lebenslauf-) Perspektive der meisten westdeutschen Frauen heißt Individualisierung heute, dass sie auf sich selbst gestellt sind, wenn es darum geht, die Inkonsistenzen eines Systems kleinzuarbeiten, in dem eigenständige Erwerbsarbeit allgemeine Norm, Regel – aber nur für ein Geschlecht, das männliche, regelmäßig vorgesehen ist. Entsprechend wörtlich ist dann die vielbesprochene Pluralisierung zu nehmen: nicht (qualitative) Vervielfältigung von Lebensweisen und -stilen, sondern (quantitative) Vermehrung der nun typisch dynamisierten und differenzierten Frauenleben. Diese Art von Individualisierung und Pluralisierung, das ausschließlich weibliche wechselhafte Leben auf eigene Faust zwischen Heirats- und Arbeitsmarkt, zwischen Sozial- und Arbeits-(nicht ‚Heirats‘-) Amt, Fürsorge, Unterhalt und Lohn, zwischen Ehe, Familie, Bildungsschleifen und Beruf erwartet und erleben nun auch ostdeutsche Frauen im Transformationsprozeß.“[19]

Mittlerweile werden in Ostdeutschland über die Hälfte der Kinder nichtehelich geboren, in den Großstädten sind es sogar noch mehr. Außerhalb der Normalfamilie lebende Kinder, z.B. jene von Alleinerziehenden, haben ein erheblich höheres Armutsrisiko, weil das System der sozialen Sicherung und die Familienpolitik der Bundesrepublik nach wie vor ehezentriert sind.[20] Betroffen von Armut und Unterversorgung sind in erster Linie solche Frauen, die wegen fehlender bzw. unzureichender Möglichkeiten der Kinderbetreuung keiner Erwerbsarbeit nachgehen können, deren (Ehe-)Partner arbeitslos sind bzw. über ein geringes Einkommen verfügen (z.B. Migranten) und/oder die keine bzw. eine schlecht bezahlte Teilzeitstelle haben.

III. Um- bzw. Abbau des Sozial­staates

In den letzten Jahren wurde der Wohlfahrtsstaat in einer Weise reformiert, die Kinderarmut nicht reduziert, sondern zementiert und zum Teil selbst produziert hat. „Alle jüngeren Maßnahmen in der Reform des Sozialsystems gehen zu Lasten von Familien und Minderjährigen.“[21] In einer Hochleistungsgesellschaft, die Konkurrenz bzw. Leistung geradezu glorifiziert und Letztere mit Prämien, Gehaltszulagen oder Lohnsteigerungen prämiert, erscheint Armut funktional, weil sie nur das Pendant dessen verkörpert, was die Tüchtigeren und daher Erfolgreichen in des Wortes doppelter Bedeutung „verdient“ haben. Armut ist mithin kein „Betriebsunfall“ oder „unsozialer Kollateralschaden“, vielmehr konstitutiver Bestandteil einer Marktwirtschaft im Zeichen der Globalisierung. Sie dient im neoliberalen „Umbau“-Projekt als willkommenes Disziplinierungsinstrument, während materieller Wohlstand und privater Reichtum ein Lockmittel bilden, das „Leistungsträger“ zu besonderen Anstrengungen motivieren soll.

Wenn sich die familiären Bindungen im Zuge des forcierten Globalisierungs-, Modernisierungs- und Individualisierungsprozesses lockern, wächst die Abhängigkeit der Individuen vom Markt bzw. vom (Sozial-)Staat. Wird dieser nach neoliberalen Vorstellungen um- bzw. abgebaut, schwinden gewohnte Sicherheitsgarantien noch mehr. Da sich Familien und Kinder auf dem freien Markt nicht behaupten können, steigt ihr Armutsrisiko. Kern des neoliberalen Projekts ist die Freisetzung der Dynamik des Marktes und des Wettbewerbs – bis tief ins Privatleben hinein. „Der Konkurrenzkampf der Warenwelt prägt nun auch die Beziehungen zwischen Menschen. Man kann sagen, dass sich der einzelne hauptsächlich durch diese Konkurrenz definiert, als jemand, der mit anderen und letztlich mit sich selbst um die Wette läuft.“[22] Man folgt dabei keineswegs dem Drang, sich auf der Basis allgemein anerkannter Regeln mit anderen zu messen, sondern wird zum Opfer einer desaströsen Konkurrenz „jeder gegen jeden“, die zur „Domestizierung des Subjekts“ führt,[23] die Entsolidarisierung zwischen den Menschen fördert und einen Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts nach sich zieht.

Der moderne Sozialstaat befindet sich zweifellos in einer Krise, aber es ist keineswegs die Krise des Sozialstaates,[24] sondern seiner ökonomischen Basis, nämlich eines Wirtschaftssystems, das nur noch relativ langsam wächst, ohne genügend Ersatz für jene Arbeitsplätze zu schaffen, die es – meist zur Freude der Börsianer – wegrationalisiert oder in sog. Billiglohnländer exportiert. Die sozialen Sicherungssysteme werden zunehmend Markt-, also betriebswirtschaftlichen Leistungs- und Konkurrenzgesetzen unterworfen. Genauso wie Unternehmen und Gebietskörperschaften sollen sie nach größtmöglicher kaufmännischer Effizienz streben, während ihr eigentlicher Zweck, Menschen in schwierigen Lebenslagen wirksam zu unterstützen, deutlich zurücktritt. „Ganz im Sinne der Ökonomisierung des Sozialen verdrängt dabei ein betriebswirtschaftlich orientiertes Leitbild von Qualitätsmanagement traditionelle Orientierungen von religiös oder ethisch motivierter Nächstenliebe, von Subsidiarität und Solidarität.“[25]

Kontrovers wird diskutiert, ob es sich beim gegenwärtigen Um- auch um einen Abbau des Sozialstaates handelt bzw. wie diese Transformation sonst zu bewerten ist. Liberalkonservative und der „Neuen Sozialdemokratie“ nahe stehende Autoren vertreten die Auffassung, dass es sich hierbei um einen notwendigen, tiefgreifenden Strukturveränderungen (Globalisierung und demografischer Wandel) geschuldeten Anpassungsprozess handelt.[26] Stephan Lessenich, der sich als undogmatischer Linker versteht, weigert sich gleichfalls, die Transformation des Sozialstaates als soziale Demontage zu bezeichnen oder den Terminus „neoliberal“ für die Reformpolitik zu benutzen,[27] und plädiert stattdessen für die Bezeichnung „neosozial“ – ausgerechnet jenen Begriff, den der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle präferiert. Gibt man ihn in eine Internet-Suchmaschine ein, fragt diese den User bezeichnenderweise, ob er „unsozial“ meine …

Unbestritten ist, dass der Wohlfahrtsstaat mittels verharmlosend und beschönigend „Reformen“ genannter Maßnahmen nicht nur systematisch demontiert, sondern auch in mehrfacher Hinsicht transformiert wird. Genannt seien vier Strukturveränderungen:

  1. Aus dem Wohlfahrtsstaat wird ein „nationaler Wettbewerbsstaat“ (Joachim Hirsch), der die Aufgabe hat, durch seine Politik die Konkurrenzfähigkeit des „eigenen“ Wirtschaftsstandortes auf dem Weltmarkt, Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Sozialstaatlichkeit, die eigentlich Verfassungsrang hat, besitzt nun keinen Eigenwert mehr, sondern muss sich nach der Standortlogik wirtschaftlichen und Machtinteressen unterwerfen. Da fast alle Gesellschaftsbereiche im Zuge einer Ökonomisierung, Privatisierung und Liberalisierung nach dem Vorbild des Marktes umstrukturiert werden, verlagert sich die Konkurrenz in den Sozialstaat selbst hinein (Beispiel: Wettbewerb zwischen freigemeinnützigen und privat-gewerblichen Trägern im Bereich der ambulanten Pflegedienste).
  2. An die Stelle des aktiven Sozialstaates, wie man ihn bei uns bisher kannte, tritt ein „aktivierender„, Hilfebedürftige nicht mehr ohne entsprechende Gegenleistung alimentierender Sozialstaat. Der „welfare state“ wandelt sich zum „workfare state“, wenn man den Arbeitszwang ins Zentrum der Beschäftigungs- und Sozialpolitik rückt. Unter dem wohlklingenden Motto „Fördern und fordern!“, das Leistungszusagen von Gegenleistungen der Begünstigten abhängig macht, bemüht man sich gar nicht mehr ernsthaft darum, die Chancen von sozial Benachteiligten zu verbessern, wie die Reduktion von Qualifizierungsmaßnahmen für Problemgruppen des Arbeitsmarktes zeigt.
  3. Der deutsche Sozial(versicherungs)staat, seit seiner Begründung durch Otto von Bismarck im Kern darauf gerichtet, die männlichen Industriearbeiter mit ihren Familien vor Standardrisiken wie dem Tod des Ernährers, der Invalidität und der Armut im Alter zu schützen, wird zu einem (stärker steuerfinanzierten) Fürsorge-, Almosen-und Suppenküchenstaat gemacht, der nicht mehr den Lebensstandard seiner Klientel erhält, sondern ihr nur noch eine Basisversorgung angedeihen lässt. Hartz IV war mit seiner Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, als „Zusammenlegung mit der Sozialhilfe“ sehr unzureichend charakterisiert, ein wichtiger Zwischenschritt auf diesem Weg und eine historische Zäsur in der Entwicklung des Arbeitsund Sozialrechts.
  4. Gleichzeitig wird das Gemeinwesen in einen Wohlfahrtsmarkt und einen Wohltätigkeitsstaat gespalten. Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich jene Bürger/innen, die es sich finanziell leisten können, das für sie erschwingliche Maß an sozialer Sicherheit (z.B. Altersvorsorge durch Versicherungspolicen der Assekuranz). Ergänzend stellt der postmoderne Fürsorgestaat bloß noch als „Grundsicherung“ bezeichnete Minimalleistungen bereit, überlässt die Betroffenen ansonsten jedoch der Privatwohltätigkeit. Folgerichtig haben karitatives Engagement, ehrenamtliche Tätigkeit im Sozial- und Gesundheitsbereich, persönliche Spendenfreudigkeit und die Gründung gemeinnütziger Stiftungen (wieder) Hochkonjunktur. Sie ergänzen den Sozialstaat nicht mehr, sondern ersetzen ihn zum Teil.

[1] Vgl. hierzu ausführlicher: Christoph Butterwegge/Michael Klundt/Matthias Belke-Zeng, Kinderarmut in Ost-und Westdeutschland, 2. Aufl. Wiesbaden 2008.

[2] Vgl. Jutta Ecarius (Hrsg.), Handbuch Familie, Wiesbaden 2007, S. 688 ff.

[3] Vgl. Sabine Walper, Wenn Kinder arm sind – Familienarmut und ihre Betroffenen, in: Lothar Böhnisch/Karl Lenz (Hrsg.), Familien. Eine interdisziplinäre Einführung, 2. Aufl. Weinheim/München 1999, S. 274.

[4] Siehe Richard Hauser, Entwicklungstendenzen der Armut in der Bundesrepublik Deutschland, in: Diether Döring/Richard Hauser (Hrsg.), Politische Kultur und Sozialpolitik. Ein Vergleich der Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Armutsproblems, Frankfurt am Main/New York 1989, S. 126.

[5] Ulrich Mückenberger, Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses. Hat das Arbeitsrecht noch Zukunft? (2. Teil und Schluß), in: Zeitschrift für Sozialreform 8/1985, S. 466 (Hervorh. im Original).

[6] Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge, Rechtfertigung, Maßnahmen und Folgen einer neoliberalen (Sozial-)Politik, in: ders./Bettina Lösch/Ralf Ptak, Kritik des Neoliberalismus, 2. Aufl. Wiesbaden 2008, S. 146 ff.

[7] Siehe Hans J. Pongratz/G. Günter Voß, Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, 2. Aufl. Berlin 2004; dies. (Hrsg.), Typisch Arbeitskraftunternehmer? – Befunde der empirischen Arbeitsforschung, Berlin 2004.

[8] Birgit Pfau-Effinger, Der soziologische Mythos von der Hausfrauenehe – sozio-historische Entwicklungspfade der Familie, in: Soziale Welt 2/1998, S. 172; vgl. ergänzend: dies., Kultur und Frauenerwerbstätigkeit in Europa. Theorie und Empirie des internationalen Vergleichs, Opladen 2000, S. 116 ff.

[9] Rüdiger Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, 7. Aufl. Wiesbaden 2008, S. 16 (Hervorh. im Original).

[10] Anthony Giddens, Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert, Frankfurt am Main 2001, S. 77.

[11] Ebd., S. 78 f.

[12] Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge/Bettina Lösch/Ralf Ptak, Kritik des Neoliberalismus, a.a.O.; dies. (Hrsg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, Wiesbaden 2008.

[13] Siehe dazu: Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, 5. Aufl. Berlin 1998; ergänzend: Wolfgang Hantel-Quitmann/Peter Kastner (Hrsg.), Der globalisierte Mensch. Wie die Globalisierung den Menschen verändert, Gießen 2004; Richard Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2007.14

[14] Siehe Wolfgang Zapf u.a., Individualisierung und Sicherheit. Untersuchungen zur Lebensqualität in der Bundesrepublik Deutschland, München 1987, S. 18.

[15] Josef Brüderl, Die Pluralisierung partnerschaftlicher Lebensformen in Westdeutschland und Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 19/2004, S. 3.

[16] Karl Hinrichs, Das Normalarbeitsverhältnis und der männliche Familienernährer als Leitbilder der Sozialpolitik. Sicherungsprobleme im sozialen Wandel, in: Sozialer Fortschritt 4/1996, S. 102.

[17] Hans-Jürgen Andreß/Miriam Güllner, Scheidung als Armutsrisiko, in: Eva Barlösius/Wolfgang Ludwig-Mayerhofer (Hrsg.), Die Armut der Gesellschaft, Opladen 2001, S. 194 f.; vgl. ergänzend: Hans-Jürgen Andreß u.a., Wenn aus Liebe rote Zahlen werden. Über die wirtschaftlichen Folgen von Trennung und Scheidung, Wiesbaden 2003.

[18] Günter Burkart, Zum Strukturwandel der Familie. Mythen und Fakten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 52-53/1995, S. 8.

[19] Kerstin Bast/Ilona Ostner, Ehe und Familie in der Sozialpolitik der DDR und BRD – ein Vergleich, in: Winfried Schmähl (Hrsg.), Sozialpolitik im Prozeß der deutschen Vereinigung, Frankfurt am Main/New York 1992, S. 250.

[20] Vgl. Magdalena Joos, Armutsentwicklung und familiale Armutsrisiken von Kindern in den neuen und alten Bundesländern, in: Ulrich Otto (Hrsg.), Aufwachsen in Armut. Erfahrungswelten und soziale Lagen von Kindern armer Familien, Opladen 1997, S. 60.

[21] Michael Winkler, Bildungspolitik nach PISA, in: Michael Opielka (Hrsg.), Bildungsreform als Sozialreform. Zum Zusammenhang von Bildungs-und Sozialpolitik, Wiesbaden 2005, S. 36.

[22] Philippe Thureau-Dangin, Die Ellenbogen-Gesellschaft. Vom zerstörerischen Wesen der Konkurrenz, Frankfurt am Main 1998, S. 65.

[23] Siehe Gabriele Michalitsch, Die neoliberale Domestizierung des Subjekts. Von den Leidenschaften zum Kalkül, Frankfurt am Main/New York 2006.

[24] Vgl. Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, 3. Aufl. Wiesbaden 2006.

[25] Udo Kelle, „Kundenorientierung“ in der Altenpflege? – Potemkinsche Dörfer sozialpolitischen Qualitätsmanagements, in: PROKLA 37 (2007), S. 113.

[26] Vgl. z.B. Wolfgang Streeck/Rolf G. Heinze, Runderneuerung des deutschen Modells. Aufbruch für mehr Jobs, in: Hans-Jürgen Arlt/Sabine Nehls (Hrsg.), Bündnis für Arbeit. Konstruktion – Kritik – Karriere, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 147 ff.; Wolfgang Merkel, Soziale Gerechtigkeit und die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus, in: Berliner Journal für Soziologie 2/2001, S. 135 ff.; Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, 3. Aufl. Wiesbaden 2005.

[27] Siehe hierzu und zum Folgenden: Stephan Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2008, S. 12 f. Ähnlich kritisch zu Lessenich äußert sich Hans Peter Bull, Neosozialer Unfug. Rot-Grün hat den Sozialstaat nicht neu erfunden, in: Die Zeit v. 21.8.2008.

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