Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 168: Ungleichheit als Schicksal?

Neues lernen von der Revolution in Orange

Ein offener Brief an die Oppositions- und Demokratiebewegung in der Ukraine

Verehrte, liebe Freundinnen und Freunde,

mit Begeisterung sehen wir Ihren mutigen Kampf für eine freie und demokratische Zukunft der Ukraine. Wir empfinden Hochachtung für Millionen Menschen der ukrainischen Nation, die die Angst verloren haben und durch zivilen Widerstand ihre Würde behaupten. Wir sehen mit Ihnen in Wiktor Juschtschenko den künftigen Präsidenten.

Mit Ihnen gemeinsam verurteilen wir die Wahlfälschungen vom 21. November. Eine Fälschung von Wahlen ist gegeben,

  • wenn sie nicht frei, geheim und gleich abgehalten werden,
  • wenn Soldaten, alte Menschen und Staatsangestellte genötigt werden, den Kandidaten des alten Apparats ihre Stimme zu geben,
  • wenn Menschen mehrfach zur Stimmabgabe gedrängt oder
  • wenn Wahlscheine manipuliert werden.

Diese Fälschung ist ein staatspolitisches Verbrechen. Sie muss dokumentiert und gerichtlich geahndet werden.
Wir haben selbst in der damaligen DDR 1989 erlebt, wie die kommunistische Regierung Wahlen zu ihren Gunsten fälschte. Die Aufdeckung dieser Lüge bedeutete den Anfang der Friedlichen Revolution und des Falls der Berliner Mauer am 9. November 1989.

Wir gehörten zur Oppositions- und Bürgerrechtsbewegung und rufen Ihnen zu: Behalten Sie die Kraft und die Ausdauer im gewaltfreien Widerstand. Lassen Sie sich nicht einschüchtern.

Wir sind sicher – auch die unverantwortliche Drohung mit der Spaltung des Landes wird nicht den Freiheitswillen der ukrainischen Nation spalten.

Wir bewundern Ihre Solidarität untereinander – einer nimmt den anderen zu Hause auf. Die praktische Unterstützung in Betrieben, Schulen, Universitäten, Kirchen und auf der Straße wird in das Gedächtnis der zivilen Revolutionen Europas eingehen.

In dieser für Sie und ganz Europa historischen Zeit wollen wir daran erinnern, dass der Keim des neuen gemeinsamen Europas mit der ersten demokratischen Regierung, hervorgegangen aus der Solidarnoés, 1989 in Polen gelegt wurde. Nach den Revolutionen in Ungarn, Ostdeutschland und der Tschechoslowakei 1989 sehen wir in der ukrainischen Demokratiebewegung diesen Geist erneut in eindrucksvoller Weise aufleben.

Gewaltfreiheit, der christliche Geist der Solidarität und der Vorrang der persönlichen Initiative auf der Straße, in der Wirtschaft und im öffentlichen Leben repräsentieren das Projekt der Zivilgesellschaft.

Die alten Kräfte des Apparats, der kommunistischen Illusion und der Mafia sollen die Chance auf einen friedlichen Neubeginn haben – aber ohne Privilegien und ohne die oligarchischen Strukturen aufrecht zu erhalten. Gemeinsam wollen wir nicht zurückweichen in der Suche nach Wahrheit, Versöhnung und einer am Gemeinwohl orientierten Wirtschaft.
Wir sind uns bewusst, dass Ihr Einsatz für eine demokratische Zukunft der Ukraine nicht ohne Antwort aus dem Westen Europas bleiben darf. Dafür wollen wir uns einsetzen. Die deutsche interessierte Öffentlichkeit rufen wir auf, dem großen, aber unbekannten Land Ukraine mehr Aufmerksamkeit als bisher zu schenken.

Wir sind Ihnen dankbar und lernen Neues von der Revolution in Orange!

Ihr Land ist im Herzen Europas angekommen!

Mitglieder der Oppositions- und Bürgerrechtsbewegungen von 1989 (u.a. Demokratie Jetzt, Neues Forum, Demokratischer Aufbruch) grüßen Sie herzlich

29. November 2004

Erstunterzeichner:
Thomas Ammer (1953-58 Eisenberger Kreis, heute Zeithistoriker), Dr. Michael Bartoszek (1989 Demokratie jetzt, heute Chemiker), Johannes Beleites (1990 Bürgerkomitee Leipzig zur Stasi-Auflösung, heute Publizist), Dr. h.c. Henryk Bereska (1989 Übersetzer polnischer Literatur, heute Übersetzer und Schriftsteller), Stephan Bickhardt (1989 Demokratie Jetzt, heute Studentenpfarrer in Leipzig), Kathrin Bickhardt-Schulz (1989 Demokratie Jetzt, Pfarrerin), Bärbel Bohley (1989 Neues Forum, Malerin), Kathrin Breitenfeldt (1989 Demokratie jetzt, Ärztin), Dr. Bernd Florath (1989 Unabhängige Sozialistische Partei, heute Historiker), Joachim Gauck (Theologe, 1989 Neues Forum, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen a. D.), Joachim Goertz (1989 Sozialdemokratische Partei, Pfarrer), Katrin Göring-Eckardt (1989 Demokratie Jetzt, heute MdB), Detlef Himmelreich (Ingenieur, 1989/ 90 Sozialdemokratische Partei, heute Geschichtswerkstatt Jena), Martin König (1989 Demokratie Jetzt, heute Theologe), Dr. Ruth Leiserowitz (1989 Frauen für den Frieden, heute Historikerin), Ekkehard Maaß (Publizist, Vorsitzender der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft), Markus Meckel (Theologe, 1989 Sozialdemokratische Partei, heute MdB), Heimgard Mehlhorn (1989 Demokratie Jetzt, heute Heimleiterin), Ludwig Mehlhorn (1989 Demokratie Jetzt, heute Studienleiter an der Evangelischen Akademie zu Berlin), Dirk Moldt (1989 Kirche von unten, heute Historiker), Jörn Mothes (1989 Neues Forum, heute Landesbeauftragter Mecklenburg-Vorpommern für Stasi-Unterlagen), Günter Nooke (1989 Demokratischer Aufbruch, heute MdB), Prof. Dr. Heinrich Olschowsky (1989 Neues Forum, Slawist und Literaturwissenschaftler), Rudi Pahnke (1989 Demokratischer Aufbruch, damals wie heute Theologe und Pfarrer), Sebastian Pflugbeil (1989 Neues Forum, Physiker, heute Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz), Gerd Poppe (1989 Initiative Frieden und Menschenrechte, früherer Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung), Ulrike Poppe (1989
Demokratie Jetzt und Initiative für Frieden und Menschenrechte, heute Studienleiterin an der Evangelischen Akademie zu Berlin), Lutz Rathenow (1989 oppositioneller Publizist, heute Schriftsteller), Uwe Schwabe (1989 Neues Forum, heute Mitarbeiter Zeitgeschichtliches Forum Leipzig), Werner Schulz (1989 Neues Forum, heute MdB), Stephan Steinlein (Theologe), Wolfgang Templin (1989 Initiative Frieden und Menschenrechte, heute Publizist), Esther Ullmann-Goertz (1989 Solidarische Kirche, Theologin), Dr. Gerhard Weigt (1989 Demokratie jetzt, Physiker), Ingrid Weigt (1989 Demokratie jetzt, Ärztin), Martin Weigt (1989 Anti-Kriegsmuseum und Demokratie Jetzt, Physiker), Konrad Weiß (1989 Demokratie Jetzt, heute Publizist), Reinhard Weißhuhn (1989 Initiative Frieden und Menschenrechte, heute wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag)

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